Die Frage des Kreuzes
«Warum musste Jesus sterben?»
Der hat in einem Vortrag betont, dass DIE Frage des Kreuzes eigentlich mehr ist als nur eine Frage. Es sind mehrere. Und wir gewinnen, wenn wir sie zusammen mit ihren verschiedenen Antworten nebeneinander stehenlassen, ohne sie zu schnell zu harmonisieren.
Warum musste Jesus sterben? Damit ich leben kann. Jetzt könnte man einen Punkt machen und alles wäre gesagt. Alles? Natürlich nicht. Die Bibel kennt und nennt eine Vielzahl von Bildern und Gedanken zum Tod von Jesus am Kreuz. Auf der Worthaustagung im Juni 2019 unterstrich der Schweizer Neutestamentler Peter Wick (54), was es mit dem «Muss» beim Kreuz auf sich hat. Und welcher Segen darauf liegt, die verschiedenen biblischen Perspektiven zum Kreuz nebeneinander stehenzulassen.
Das grosse «Muss»
Der Schweizer Theologe lehrt zurzeit an der Ruhr-Universität in Bochum. Und so beginnt er seine Betrachtung auch mit einem Beispiel aus dem Ruhrpott – das in anderen Regionen aber ähnlich stattfindet. Die Antwort im Ruhrgebiet auf die klassische Frage: «Wie geht’s?», ist nämlich sehr kurz: «Muss.»
Ähnlich kurz ist die Antwort der Bibel darauf, warum Jesus sterben musste. Immer wieder steht im Neuen Testament geschrieben, dass dieses Sterben zwangsläufig war, zum Beispiel in der bekannten Aussage in Markus, Kapitel 8, Vers 31: «Und er [Jesus] fing an, sie zu lehren, der Sohn des Menschen müsse viel leiden und von den Ältesten und den obersten Priestern und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen wiederauferstehen.» So oder ähnlich wird das an etlichen Stellen betont. Doch das Muss darin wird nirgendwo näher erklärt.
Wie viel Sprengkraft auch für heutige Menschen in dieser Frage steckt, macht Wick an einem Seminarbeispiel deutlich. Er sollte zum Thema «Warum musste Jesus sterben?» einen Vortrag halten und begann ihn mit der Frage: « Bitte schliessen Sie mal die Augen. Ich stelle diese Frage nochmals und Sie achten darauf, wo Sie sie im Körper spüren.» Ein ungewöhnlicher Zugang, doch die verblüfften Antworten (im Solarplexus zum Beispiel) zeigten, dass die Frage bei vielen mit einer gewissen Wut oder mindestens starken Emotionen verbunden ist. Tatsächlich macht uns diese Frage wütend, aggressiv. Sie nervt. Warum musste Jesus sterben? Warum ist sein Tod notwendig? Das ist mehr als eine verstandesmässige Frage; sie hat eine starke emotionale Dimension.
Von einer zu mehreren Perspektiven
Unser heutiges christliches Verständnis vom Kreuz ist stark von einem Theologen des Mittelalters bestimmt: Anselm von Canterbury. Er formulierte und betonte viele heute weit verbreitete Gedanken der Sühnetheologie, besonders die Idee einer Bezahlung von Lösegeld. Nur: Wer bezahlt hier wen? Zahlt Jesus den Teufel aus? Auf welcher Basis? Bezahlt sein Tod den Vater? Warum?
Jeder einzelne Begriff, den Anselm verwendete, ist biblisch fundiert. Das Problem liegt eher in der Zusammenschau. Doch die Frage nach dem Kreuz lässt sich nicht nur aus einer Perspektive betrachten. Wick unterstreicht, dass sie multiperspektivisch bleiben muss. Und erklärt: «Das kostet etwas. Wer sich einer Frage von verschiedenen Seiten nähert, kommt ihr näher, doch gleichzeitig scheinen sich die erhaltenen Antworten zu widersprechen.»
Als Kinder betrachten wir einen Gegenstand von verschiedenen Seiten (Wick nennt als Beispiel ein Handy) und sehen unterschiedliche Ansichten und Eigenschaften. Als aristotelisch gebildete Erwachsene sehen wir immer denselben Gegenstand. Wir haben längst gelernt, das, was wir wissen, mit dem, was wir sehen, zu harmonisieren. Daraus basteln wir uns dann eine einzige Wirklichkeit oder Ansicht. Oft ist dieses Vorgehen hilfreich. Aber es steht uns schnell im Weg, wenn wir über den Grund für das Sterben von Jesus nachdenken. Hier ist es tatsächlich besser, die einzelnen Bilder und Ideen nebeneinander stehenzulassen.
Christus ist ganz Mensch und solidarisch mit uns
Paulus unterstreicht sehr deutlich, dass Christus gestorben ist und begraben wurde – wie jeder andere Mensch zu jeder Zeit. «Denn ich habe euch zuallererst das überliefert, was ich auch empfangen habe, nämlich dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, und dass er begraben worden ist und dass er auferstanden ist am dritten Tag, nach den Schriften» (1. Korintherbrief, Kapitel 15, Verse 3–4). Damit macht er sich solidarisch mit uns anderen Menschen – durch seinen Tod sogar sehr radikal. Er war schon im Leben einer von uns, doch sein Tod besiegelte das ein für alle Mal.
Christus als Stellvertreter
In Römer, Kapitel 5, Verse 6–10 macht Paulus den Tat-Folge-Zusammenhang deutlich: «Denn Christus ist, als wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum jemand für einen Gerechten; für einen Wohltäter entschliesst sich vielleicht jemand zu sterben. Gott aber beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Wie viel mehr nun werden wir, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt worden sind, durch ihn vor dem Zorn errettet werden! Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, wie viel mehr werden wir als Versöhnte gerettet werden durch sein Leben!»
Es zieht sich als roter Faden durch die gesamte Bibel, dass Sünde den Tod bereits in sich trägt, dass er ihr unmittelbar folgt. Dieser Zusammenhang wird hier nicht näher begründet oder erklärt, stattdessen sprengt Paulus die scheinbar unabänderliche Folge und erklärt: Nicht du als Mensch musst sterben, sondern Jesus tritt stellvertretend diesen Weg, diese Strafe an.
Ähnliches haben immer wieder auch andere Menschen getan, indem sie sich für geliebte Freunde und Angehörige hingegeben haben. Das Besondere bei Jesus ist: Er tut dasselbe für Sünder, für seine Feinde, für diejenigen, die ihm fern sind.
Der fröhliche Wechsel
Ein weiteres Bild, das beschreibt, warum Jesus am Kreuz sterben «musste», nannte Martin Luther den «fröhlichen Wechsel». Paulus spricht an mehreren Stellen von diesem Ausgleich. In 2. Korinther, Kapitel 8, Vers 9 betont er: «Denn ihr kennt ja die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, obwohl er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet.» Und in Galater, Kapitel 3, Verse 13–14 ergänzt er: «Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch wurde um unsertwillen (denn es steht geschrieben: 'Verflucht ist jeder, der am Holz hängt'), damit der Segen Abrahams zu den Heiden komme in Christus Jesus, damit wir durch den Glauben den Geist empfingen, der verheissen worden war.»
Luther hatte bei diesen ausgleichenden Bildern von Leben und Tod, Arm und Reich, Sünde und Gerechtigkeit eine Waage im Kopf. Heute mag eine Pendelseilbahn das passendere Bild sein. Bei ihr sind berg- und talwärts fahrende Kabinen miteinander verbunden, wobei die abwärts fahrende Gondel die andere quasi heraufzieht. Kein Wunder, dass Luther hier von einem fröhlichen Wechsel sprach: Mit uns geht es im wahrsten Sinne aufwärts...Teilhabe an Chrisus
Jesus ist durch seinen Tod zur Auferstehung gelangt. Die Taufe verbindet uns besonders mit diesem Weg in Tod und Beerdigung hinein. Paulus unterstreicht, wie eng das zusammenhängt: «Oder wisst ihr nicht, dass wir alle, die wir in Christus Jesus hinein getauft sind, in seinen Tod getauft sind?» (Römer, Kapitel 6, Vers 3). Und der Apostel betont damit, dass diese enge Verbindung uns sogar aus dem Tod heraus in ein neues Leben reissen wird. Am Ende wird damit sogar der für uns unüberwindliche Tod besiegt. Das Ganze ist jedoch jetzt erst zum Teil erfahrbar – von den Spannungen spricht der Rest des Kapitels.
Christus als radikales Vorbild für Liebe
Im Philipperbrief nennt Paulus einen weiteren Aspekt: Jesus wird durch seinen Tod zum Vorbild für eine konsequente und vollständige Hingabe: «Denn ihr sollt so gesinnt sein, wie es Christus Jesus auch war …» (Philipper, Kapitel 2, Vers 5).
Christus «entäussert» sich – das bedeutet, dass er sich wie eine Flasche entleert, damit andere etwas vom Inhalt haben, erklärt Peter Wick. Und in dieser radikalen Hingabe setzt er ein Beispiel für radikale Nachfolge und Liebe.
Und wo bleibt das Neue?
Wenn Sie diese Gedanken betrachten, dann haken Sie dabei vielleicht Ihre innere Checkliste ab und denken sich: «Hab ich alles schon einmal gehört. Wo bleibt das Neue?»
Peter Wick behauptet nicht, dass er etwas Neues zum Kreuz verkünden würde. Aber er empfiehlt am Ende seines Vortrags (in dem auch noch etliche andere Aspekte genannt werden), einen Fehler zu vermeiden: «Tun Sie nicht all Ihre Erkenntnisse in den Mixer in der Hoffnung auf eine 'goldene Mitte'». Er regt vielmehr dazu an, die einzelnen Gedanken und Ideen nebeneinander stehenzulassen, damit keine unbefriedigende Zusammenschau entsteht, die wenig weiterhilft und schnell überfordert. «Es sind unterschiedliche Perspektiven und jede einzelne dürfen wir uns aneignen – aber bitte nicht gleichzeitig.»
Das bedeutet: Wer bisher seinen Schwerpunkt auf eine radikale Nachfolge gelegt hat, kann ruhig einmal über andere Aspekte des Kreuzes nachdenken – und sie dabei nicht «einordnen» oder mit den eigenen Erwartungen harmonisieren, sondern aushalten und sich dadurch bereichern lassen. All diese Zugänge führen in die Beziehung mit Gott. Dabei geht es weniger darum, «wo wir stehen», sondern darum, wie wir vorangehen. Wo sich unser Herz auftut. Und dann wird es spannend, zusätzlich zu den Zugängen, die wir schon kennen und sehen, andere zu entdecken. Neue Perspektiven. Neue Schätze.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet