Wilf Gasser
«Wo Frauen in der Leitung sind, hat dies einen motivierenden Einfluss»
Das Buch von Chrischona-Prediger Christian Haslebacher «Yes she can» über Frauen als Pastorinnen und Führungskräfte sorgt für Gesprächsstoff. Wilf Gasser, Psychiater und Sexualtherapeut, spricht sich dezidiert für eine Vorwärtsstrategie aus.
Livenet: Wilf Gasser, wie kommt die Diskussion um Frauen in Leitungspositionen bei Ihnen an?
Wilf Gasser: Es hat mich erstaunt, welche Emotionen das Thema ausgelöst hat. Aus meiner Perspektive sehe ich vor allem das grosse Potenzial, das in der Mitarbeit von Frauen in Führungsverantwortung liegt.
Wie erleben Sie selbst Frauen in Leitungsfunktionen in Landes- und Freikirchen?
Ich bin in einer Freikirche aufgewachsen, in der Frauen in der Gemeindeleitung inexistent waren. Sie leiteten vielleicht die Sonntagsschule oder organisierten ein Weihnachtsmusical. Viele Gemeinden sind heute stärker dafür sensibilisiert, was die Frauen und auch die Jungen als Verantwortungsträger beitragen können, und diese arbeiten heute vielerorts auch in Leitungsteams und in Vorständen mit. Das ist meines Erachtens eine gute Entwicklung, aber wir schöpfen das Potenzial noch längst nicht aus. Ich erlebe das auch bei meiner Frau und meinen Töchtern, die je auf ihre eigene Art begabt sind für Leitungsaufgaben und diese auch sehr gut wahrnehmen.
Wo liegen denn die Hemmschwellen, Frauen in die Leitung zu berufen?
Ich beobachte, dass man an Frauen höhere Anforderungen stellt und sie bezüglich ihrer Begabung und Leistung oft kritischer beurteilt als Männer. Interessanterweise geschieht das oft durch die Frauen selbst. Sie werden zudem seltener nachhaltig für eine Leitungsverantwortung oder als Rednerinnen aufgebaut. Ich kann zum Beispiel schlecht nachvollziehen, dass für christliche Konferenzen mit rund 60 Prozent Teilnehmerinnen angeblich keine tauglichen Referentinnen gefunden werden. Mir scheint, wir haben da ein ernsthaftes Problem in der Personal- Entwicklung.
Haben Sie keine theologischen Bedenken zu Frauen in Leitungsaufgaben?
Persönlich nicht. Aber ich stelle fest, dass es diese weiterhin gibt, besonders wenn es um die oberste Leitungsebene geht. Und diese unterschiedliche Beurteilung respektiere ich. Es gibt solche unterschiedlichen Auslegungen ja auch zum Beispiel in der Tauffrage.
Die Wirtschaft hat erkannt, dass Unternehmen besser arbeiten, wenn sie Frauen in ihren Leitungsgremien haben. Gilt das auch für Kirchen?
Auf der obersten Führungsebene finden sich generell in der Gesellschaft noch wenig Frauen. Ausser vielleicht in der Politik. Aber ich erlebe vor allem in Vorständen und Leitungsteams, wie wichtig die Stimmen der Frauen für das Gesamtbild sind. Sie bringen oft andere, eher beziehungsorientierte Aspekte oder Fragen ein. Und dies fordert mich persönlich manchmal auch heraus. Ich finde es aber jammerschade, wenn wir diesen Beitrag nicht nutzen. Wenn wir gesellschaftsrelevant Gemeinde bauen wollen, müssen wir die Stimmen und den Beitrag der Frauen hören, wertschätzen und ihnen mehr Raum geben.
Viel Potenzial sehe ich vor allem auch bei jungen Frauen, die speziell im Bereich von Diakonie und sozialer Gerechtigkeit Verantwortung übernehmen und etwas bewegen wollen. Aber selbst hier sind Frauen in Leitungspositionen noch zu selten anzutreffen, und es ist oft tatsächlich sehr schwierig, Frauen zu finden, die dazu bereit sind. Gelegentlich höre ich dann das Argument, es mache keinen Sinn, eine Quotenfrau zu berufen. Oder Frauen grenzen sich selbst ab und wollen keine «Quotenfrau» sein. Aber mir persönlich ist eine Quotenfrau lieber als gar keine. Denn wo Frauen in Leitungspositionen sind, hat dies einen motivierenden Einfluss. Offensichtlich ist die Vorbildfunktion sehr wichtig, und wer zum Beispiel wie die Heilsarmee gute Modelle von Frauen in Leitungsaufgaben hat, kann sich eine solche Rolle auch für sich selbst leichter vorstellen.
Was können Männer tun, um diese Entwicklung zu fördern?
Frauen reagieren zurückhaltend auf Anfragen für Leitungsaufgaben und fragen sich erst einmal, was dagegen sprechen könnte und ob sie das wirklich können. Männer fühlen sich hingegen schneller für eine Führungsaufgabe qualifiziert. Frauen haben also spezifische Bedürfnisse, wie sie gefördert werden möchten. Es braucht deshalb Männer, die eine Sicht für den Beitrag der Frauen haben und sie begleiten. Dass ich zum Beispiel mit Frauen in meinem Umfeld darüber spreche, ein Gegenüber in ihren Fragen bin oder ihnen helfe, Enttäuschungen zu verarbeiten – das sind wichtige Schritte in diese Richtung.
Aber es geht darüber hinaus. Ich verstand lange nicht, weshalb meine gönnerhafte Haltung «Ich helfe dir gerne, dich zu entfalten» bei meiner Frau keine Begeisterung auslöste. Eines Tages zählte sie mir drei Männer auf und sagte: «Für diese Männer hast du eine Sicht. Du siehst mehr in ihnen als sie selber. Nun, was ist deine Sicht für mich?» Ich blieb ihr damals die Antwort schuldig, verstand aber besser, was sie suchte. Ich beobachte, dass die meisten Frauen in Verantwortung die bewusste Unterstützung von einem Ehemann, Vater oder «Götti» gehabt haben. Wir Männer müssen uns also auch gegenseitig für diese wichtige Aufgabe der Ermutigung sensibilisieren lassen.
Braucht es vermehrt Veranstaltungen, welche die Leitungsarbeit von Frauen thematisieren und ihnen die Gelegenheit geben, sich auszutauschen?
Frauenkonferenzen, welche die Identität der Frau zum Thema machen, sind zurzeit im Aufschwung und entsprechen offenbar einem Bedürfnis. Noch wichtiger sind jedoch Orte, wo Frauen in Führungsverantwortung ihre Erfahrungen miteinander austauschen und sich gegenseitig ermutigen können. Seit dem ersten Forum für christliche Führungskräfte 2012 trifft sich ein kleiner Kreis von Frauen in Leitungspositionen gelegentlich zu einem Brunch. Neu gibt es auch ein Treffen für Frauen, die in Gemeinden grössere Verantwortung tragen. Diese Treffen werden sehr geschätzt. Ich denke jedoch, dass das Angebot von Coaching und Mentoring für diese Frauen noch stark ausgebaut werden könnte. Viele Frauen stellen ihre Aufgaben in der Familie über mögliche Leitungsaufgaben in Beruf oder Gemeinde. Es ist gut, wenn sich Frauen bewusst für eine Phase mit «Familien-Priorität» entscheiden. Nur müssen die Gemeinden Wege finden, sie trotzdem in die Verantwortung einzubinden. Zum Beispiel, indem Sitzungen so geplant werden, dass sich Mütter auch beteiligen können. Es braucht auch hier die spezielle Aufmerksamkeit der Männer, um Frauen in einem männerdominierten Umfeld nicht abzuhängen!
Es ist aber auch zu beobachten, dass Frauen heute den Beruf vor die Gemeinde stellen.
Ja, das beobachte ich auch. Früher hatten Frauen neben der Familienarbeit oft noch genügend Kapazität, um sich ehrenamtlich in der Gemeinde zu engagieren. Oder die Gemeindearbeit war sogar eine willkommene Abwechslung. Heute wollen oder müssen sie sich oft ein berufliches Standbein bewahren und haben dann kaum mehr Energie für ein ehrenamtliches Engagement übrig. Eine Alternative sehe ich darin, dass Gemeinden gezielt für solche Frauen auch Teilzeitstellen schaffen und sich ihr Engagement etwas kosten lassen. Sie leisten dann oft mehr als das, wofür sie entlöhnt werden.
In der Quintessenz geht es letztlich nicht um die Frage von Mann oder Frau. Denn seit dem Sündenfall ist unser Miteinander gestört, aber Jesus hat diesen Bruch geheilt. Reich Gottes machen wir sichtbar durch ein «erlöstes», gesundes und fröhliches Miteinander von Männern und Frauen, von Alt und Jung.
Zur Person
Dr. med. Wilf Gasser ist verheiratet und Vater von drei Kindern sowie aktuell dreifacher Grossvater. Er ist Präsident der Schweizerischen Evangelischen Allianz und Unternehmensberater. Zusammen mit seiner Frau Christa hält er auch Seminare zum Thema «Wachsende Intimität in der Ehe» und bietet neu die Wellness-Woche «Sexperiment» an. Er ist Mitgründer des Männerforums Deutschschweiz und des Forums für Christliche Führungskräfte. Christa und Wilf sind aktive Mitglieder der Vineyard Bern und leben in einer kleinen Gemeinschaft.
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Quelle: Livenet
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