Kirchen nach Lockdown
Vineyard Zürich: «Eine Chance, Gott frisch und entschlackt zu begegnen!»
Für einige Kirchen
war der Lockdown wegen Corona schockierend und lähmend, und das gesamte
Kirchenleben lag brach, andere nahmen die Herausforderung als Chance für Neues
wie etwa Livestream-Gottesdienste. Livenet sprach mit Diakon Christoph
Hungerbühler aus dem Leitungsteam der Vineyard Zürich über Schönes und
Schweres, über Lernfelder und mögliches Neuland nach Corona.Wie
haben Sie die Corona-Zeit als Gemeinde erlebt?
Christoph Hungerbühler: Das Gemeindeleben fusst wesentlich auf
zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie verleihen der Gemeinschaft Leben,
Inspiration, Geborgenheit, Kraft. Und plötzlich hiess es: Bleiben Sie zuhause,
halten Sie Abstand. Schützen Sie sich und andere! Viel Unsicherheit lag in der Luft. Der eingespielte, herzliche Umgang
miteinander musste auf eine physisch distanzierte Weise ganz neu erarbeitet
werden. Mit einem Lockdown hatten wir null Erfahrungen. Wir mussten uns an neue
Umgangsformen gewöhnen, welche laufend dem widersprüchlichen Erkenntnisstand
über die Pandemie angepasst wurden. Die Umsetzung strapazierte den Umgang in
Büros, unter Freunden und zuhause. Auch in der
Gottesbeziehung kam durch den Lockdown bei den meisten Menschen einiges ins
Wanken, teils zum Positiven, teils zum ernüchternden Erleben einer Gottferne.
Wo gab es Lichtblicke, Chancen,
Weiterentwicklungen?
Ich war sehr
erfreut, zu sehen, wie Solidarität und Mitgefühl viele schwierige Situationen
entschärften, Einsamkeit und Verzweiflung durch bewusste Aufmerksamkeit untereinander
verringert wurden. Die Kommunikation via interaktiver Video-Plattformen wurde
in unserer Gemeinde intensiv genutzt für kleinere Treffen, aber auch für solche
mit 50 und mehr Teilnehmern. Diese wurden zentral von der Gemeindeleitung organisiert
und moderiert. Das Gemeindeleben war also trotz wenigen physischen Kontakten
intakt, aufbauend und dezentral organisiert.
Manche Persönlichkeitstypen liefen im Corona-Ausnahmezustand auf Hochtouren. So organisierte eine unserer Kindermitarbeiterinnen anstelle des geplanten Kindercamps in den Frühlingsferien kurzerhand ein halbstündiges, tägliches Videoprogramm. Darin arbeiteten ganz viele Leiterinnen und Leiter von zuhause per Handykamera mit, so dass ein attraktiver mehrteiliger Film entstand, der jeden Tag eine Fortsetzung fand mit vielen interaktiven Ideen zum Sport treiben, Tanzen, Singen, Basteln, Backen, Raten und Tüfteln. Eine Kostprobe gibt es hier.
Gab es
Ermutigendes in Ihrem privaten Umfeld?
Ich war trotz social distancing aufgehoben in einem eindrücklichen Netz
von Beziehungen, deren Qualität sich jetzt unter Beweis stellte. Das zeigt mir
eindrücklich, wie wichtig es ist, weiterhin in Beziehungen zu investieren und
diese trotz Gegenwind und Rückschlägen auszubauen.
Gab es einen
bestimmten Bibelvers oder einen Song, der Sie durch die Corona-Zeit begleitet
hat?
Neben den Psalmen
23 und 92, welche die unerschütterliche Nähe Gottes in einer beängstigenden
Zeit wie dieser weltweiten Pandemie ausdrücken, hat mich das in dieser Zeit aufgenommene Lied «Der
Herr segne dich» («The Blessing») vom Gebetshaus Augsburg auf YouTube tief
bewegt und erfüllt. Auch die Neuaufnahme von «Global Choir», wo jede Liedzeile
in einem anderen Land gesungen wird, ist sehr berührend und verbindend.
Wie erleben Sie
jetzt nach drei Monaten Lockdown die Kirchen-Lockup-Phase?
Wir feierten am
14. Juni wieder den ersten Live-Gottesdienst mit den entsprechenden
Distanzregeln. Im Vorfeld präparierten wir als Angestellten-Team gemeinsam den
Gottesdienstraum, so dass die Stühle 1,5 m auseinander hufeisenförmig
standen. Auf diese Weise schauten die Leute einander teilweise ins Gesicht.
Dieses gemeinsame Vorbereiten einer völlig anderen Kulisse als vorher mit
anschliessendem Abendessen im Garten war für uns ein heiliger Moment. Und gross
war natürlich die Freude, als am Sonntag viele Leute den Weg in den
Gottesdienst nach drei Monaten wieder unter die Füsse nahmen, um Gott gemeinsam
anzubeten. Insbesondere das gemeinsame Singen mit über hundert meist vertrauten
Menschen hatte etwas besonders Feierliches, tief Berührendes. Natürlich gab es
da und dort gewisse komische Situationen, wie man sich nun begrüssen und
verabschieden soll. Aber in der Freude des Wiedersehens traten diese zögernden
Momente schnell in den Hintergrund.
Geht es nach Corona zurück zum Business as usual oder haben Sie neue
Ideen und Konzepte für die Zeit danach?
Ich merke, wie ich mich da
und dort ertappe, zurück an «die gute alte Zeit vor Corona» zu denken und das
damalige Business as usual zu glorifizieren. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Corona-Pandemie uns über längere Zeit zu
neuem Denken zwingt und die momentane Verunsicherung ein Stück zum Business
as usual wird. Ich wünsche mir, dass diese Verunsicherung uns verstärkt in
die Nähe Gottes bewegt. Wir merken, wie vermeintliche Sicherheiten sich ganz
schnell auflösen, liebgewonnene Gewohnheiten und Konzepte nicht mehr den Trost
spenden wie vorher. Das ist eine Chance, Gott frisch und entschlackt zu
begegnen, sich in ungewohnter Weise mit ihm zu beschäftigen und mehr vom Reich
Gottes auf der Erde zu erfahren.
Zum Thema:
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Autor: Meike Ditthardt
Quelle: Livenet