Relevanz versus Wachstum?
Landes- und Freikirchen im Vergleich
Die SRF-Sendung «Kontext» vom 25. April brachte ein Interview mit einer bemerkenswert differenzierten Darstellung der Freikirchen, die im Gegensatz zur Landeskirche als wachsend dargestellt werden. Die Sendung löste zahlreiche Kommentare aus.
Das Interview von Radio SRF mit Isabelle Noth, Professorin an der theologischen Fakultät der Universität Bern, ist ungewöhnlich, denn es stellt die Stärken der Freikirchen den Schwächen der Landeskirchen gegenüber. Zudem erfährt der Begriff «evangelikal» eine weniger schrille Definition als üblich.Freikirchen fordern Landeskirchen heraus
Isabelle Noth ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und -pädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Phänomen der Freikirchen und initiierte den Studiengang «Spiritual Care» an der Uni Bern. «Die Herausforderungen, die mit dem Erfolg evangelikaler Gruppierungen einhergehen, müssen wir ernst nehmen», sagt sie im Gespräch mit Bernard Senn.
Zur Definition eines evangelikalen Glaubens stellt Noth fest: «Das, was wir früher als pietistisch oder bibeltreu bezeichnet haben, nennen wir heute evangelikal. Evangelikale wollen nicht nur am Sonntag oder auf dem Papier Christen sein, sondern ihr ganzes Leben in den Dienst des Christentums stellen.» Evangelikale seien klar entschiedene Christen, die aber auch Mitglied der Landeskirche sein können. Sie weiss aber auch, wie unterschiedlich die Spiritualität von Christen sein kann, die sich «evangelikal» nennen: «'Evangelikal' ist ein Sammelbegriff, bei dem man bei jeder Person genau schauen müsste, welche Färbung ihre Form der Religiosität beziehungsweise ihre Spiritualität hat.»
Individualität und Gemeinschaft
Als besondere Stärke der Freikirchen sieht Noth, dass sie das Bedürfnis nach Individualität mit dem Bedürfnis nach Gemeinschaft verbinden können. Evangelikale Christen entscheiden sich für den Glauben und können ihn dann in einer aktiven und lebendigen Gemeinschaft leben: «In Freikirchen findet fast alles innerhalb der Gemeinschaft statt: Freizeit, Familie, Gottesdienste. Freikirchen erfüllen das Bedürfnis, als Individuum angesprochen zu werden, und dennoch stark eingebunden zu sein und dazu zu gehören.» Was die Stärke der Freikirchen ist, sei zugleich die Schwäche der Landeskirchen, die für alle offen sein wollten.
Den Kontakt suchen, trotz Vorbehalten
Zwar stört sich Isabelle Noth auch an Ausprägungen der Freikirchen wie dem Umgang mit der Geschlechterfrage oder der Macht. «Generalstabsmässige Eroberungspläne von Gebieten durch Mission und Kirchengründungen» haben für sie etwas «Patriarchalisches». Ebenso die konservative Werthaltungen «in gewissen evangelikalen Kreisen».
Die Professorin fordert dennoch die Landeskirchen auf, den Kontakt mit den Freikirchen zu pflegen und mit ihnen zusammen das Gemeinsame zu suchen. Dabei könnten sie von freikirchlichen Strömungen, wie sie von Migranten mitgebracht werden, lernen. Das wichtigste sei jedoch, anzuerkennen, «dass das, was evangelikale Gruppierungen leben und uns vorzeigen, ebenfalls christlich ist.»
Die Diskussion ist eröffnet
Der von SRF publizierte Text des Interviews hat zahlreich Kommentare und Diskussionen ausgelöst. Sie machen deutlich, dass die von Noth gemachten Abgrenzungen da und dort zutreffen, aber in andern Freikirchen wiederum längst einer neuen Realität gewichen sind wie zum Beispiel die Beteiligung der Frauen in den Leitungsgremien. Das Interview geht auch nicht darauf ein, dass ihre Forderung nach einem guten Miteinander an zahlreichen Orten von lebendigen landeskirchlichen Gemeinden schon umgesetzt worden sind und als Modell dienen können, zum Beispiel in den Landes- und Freikirchen im Rahmen der Evangelischen Allianz in Basel. Umgekehrt kommt in den Kommentaren zum Ausdruck, dass auch Freikirchler noch Aufholbedarf im Blick auf die Wahrnehmung der Realitäten ihres eigenen Lager und des scheinbar gegnerischen haben.
Spannend wäre eine Diskussionsrunde zu den genannten Themen zusammen mit Isabelle Noth, einem Kirchenratspräsidenten wie Lukas Kundert und Freikirchenvertretern aus unterschiedlichen Traditionen.
Zum Thema:
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet