Strassenkinder in Honduras

«In zwei Jahren bin ich tot»

Militärputsch in Honduras. Gewaltsame Proteste in der Hauptstadt Tegucigalpa. Die Schlagzeilen über das ärmste Land Mittelamerikas klingen dramatisch. Livenet.ch war mit dem Schweizer Kinderhilfswerk «Casa Girasol» vor Ort und hat das Land hinter den Medienberichten kennengelernt.

Die Schaufel bohrt sich immer wieder in die feuchte Erde. Don Louis scheint überhaupt nicht müde zu werden. Schaufel um Schaufel leert sich die Ladefläche des reparaturbedürftigen Pickups, während die Löcher in der ausgespülten Naturstrasse dafür langsam verschwinden. Nicht ganz so locker wie der honduranische Arbeiter, aber voller Motivation arbeiten die Workcamper aus der Schweiz und Deutschland mit. Auch wenn der Schweiss fliesst und die Mücken unbarmherzig zustechen.

«Arbeitslager» mit viel Erholung

«Workcamp» - was übersetzt mit «Arbeitslager» etwas hart tönt, ist ein Mix zwischen Arbeitseinsatz und Ferien in Honduras. Knapp 40 Schweizer und Deutsche nehmen dieses Jahr im Juli und August teil. Die Länge des Einsatzes kann jeder selbst festlegen; sie variiert zwischen zwei und acht Wochen. Drei Tage pro Woche helfen die Teilnehmer mit, die Infrastruktur des Hilfswerks zu reparieren oder auszubauen. An den anderen vier Tagen können sie Land und Leute kennenlernen.

Von der Baustelle führt die Strasse durch den Pinienwald den Hügel hinauf. Vorbei an verschiedenen einfachen Hütten, in denen honduranische Familien zum Teil ohne Strom oder Sanitäranlagen wohnen, gelangt man zum Grundstück des «Casa Girasol». 2006 gegründet, bietet das Hilfswerk hier ein bis zwei Mal pro Monat Camps für Strassenkinder an. Die Kids kommen aus einem Kinderheim in der zwölf Kilometer entfernten Hauptstadt Tegucigalpa.

Für die Kinder

Auf dem Grundstück befindet sich auch die winzige Einzimmerwohnung von Carmela und Andreas Schmid. Die Philippinin und der Schweizer wohnen hier seit gut einem Jahr. Die Beiden sind Hausverwalter, Kindermissionare, Bauleiter und Betreuer der Workcamper in einem. Im Frühling haben sie geheiratet - nach einer acht Monate dauernden Bürokratieschlacht mit den Behörden aus der Schweiz und Honduras. 

Schmids arbeiten kostenlos fürs «Casa Girasol». Finanziell unterstützt werden sie von einem eigenen Freundeskreis. Das hilft dem Hilfswerk, die Kosten tief zu halten und alle Mittel direkt in die Strassenkinder zu investieren. «Es ist nicht immer einfach, den Gedanken zu ertragen, dass wir im Moment überhaupt nichts auf die Seite legen oder für unsere Altersvorsorge tun können», sagt Andreas. Doch wenn er die Jugendlichen auf der Strasse sehe, müsse er einfach hier sein.

Sehnsucht nach Umarmungen

Es sind bewegende Schicksale, welche die Strassenkinder erzählen, wenn sie für eine Woche ins «Casa Girasol» kommen. In der Hauptstadt beherrschen die Gangs die Strassen. Die Polizei ist den Jugendlichen ebenfalls keine Hilfe - die Korruption ist in Honduras ein weitverbreitetes Problem. «Was machst du in zwei Jahren?», fragte Andreas ein Mädchen, das an einem der Camps teilnahm. «Nichts, dann bin ich tot», war die deutliche Antwort. «Wenn die Kinder ins Casa Girasol kommen, sehnen sie sich nach Liebe und Umarmungen. Man merkt ihnen an, dass sie weder Vater noch Mutter haben», so Schmid. Sie könnten es oft kaum begreifen, dass sich jemand Zeit für sie nimmt und sich für sie interessiert.

Teamwork lernen

Die «Schatzjäger-Camps» werden jeweils für zehn Jungen und zehn Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren angeboten. Diese leben sonst im «Casa Allianza», einer Auffangeinrichtung für Strassenkinder mitten im Zentrum Tegucigalpas. Wer sich dort gut benimmt, darf als Belohnung an einem der Camps teilnehmen. Für viele Kids ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie aus der Stadt rauskommen.

Mit Theater- und Singwettkämpfen, einer Schatzsuche und einem Punkte-System für gutes und schlechtes Verhalten lernen die Kinder währen der Lagerwoche Grundlegendes wie Sozialkompetenz und Teamwork. Im täglichen Überlebenskampf auf der Strasse war für diese Dinge wenig Platz. Daneben erfahren sie von Schmids mehr über den christlichen Glauben und darüber, dass sich Gott auch für sie, die Strassenkinder, die zur untersten sozialen Schicht gehören, interessiert.

Dankbare Kids

«Die Camps sind sehr intensiv und anstrengend, aber jedes ist einzigartig und unvergesslich», so Andreas. «Innerhalb von sechs Tagen lernen wir die Kinder unglaublich nahe kennen.» Sonnst könne er sich kaum einen Namen merken, aber die Namen der mittlerweile mehr als 140 Campteilnehmer vergisst Andreas erstaunlicherweise nicht. «Die Lager sind für die Kinder sehr wichtig. Es ist eine besondere Auszeichnung, wenn sie hierher kommen dürfen. Unterdessen behandeln sie uns wie Rockstars, wenn wir sie wieder treffen.» Schmids versuchen das zu verhindern, indem sie den Kindern beibringen, dass sie nicht ihnen, sondern Gott danken sollen.

Schlafen im Bus

Im Moment sind keine Strassenkinder im «Casa Girasol». Die Betten werden stattdessen von den Workcampern belegt. Für sie gibt es rund ums «Casa Girasol» viel zu tun. So entstanden mit ihrer Hilfe etwa eine Feuerstelle und eine Theaterarena. Oberhalb vom Haupthaus mit Küche, Gemeinschaftsraum, Schlafräumen für 20 Personen, Badezimmer und Waschküche steht zudem ein ausgedienter Bus. Auf ein Fundament gesetzt, ausgebaut und mit fünf Betten ausgestattet, dient er nun als zusätzlicher Schlafraum. Für 2000 Dollar wurde vor kurzem ein weiterer Bus gekauft.

Die Strasse ist inzwischen wieder einigermassen repariert und befahrbar. Die männlichen Workcamper haben mit der Reinigung des neuen Schlafbusses begonnen. Die Frauen werden beim neuen WC- und Duschtrakt gebraucht. Sie verpassen ihm einen gelb-grünen Anstrich. Unterstützt werden sie von einem einheimischen Arbeiter. Das gehört zum Konzept von «Casa Girasol» - so kann das Hilfswerk Leute aus der Umgebung mit einem kleinen Verdienst unterstützen.

Lesen Sie den 2. Teil: Suche nach Gott und einem fähigen Präsidenten

Webseite: www.casagirasol.ch

Datum: 19.08.2009
Autor: David Sommerhalder
Quelle: Livenet.ch

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