Der Weg war das Ziel
Pilgern – was tun, wenn man zurückgekommen ist?
Auch der längste Pilgerweg hört einmal auf. Aber wie geht es weiter, wenn man nach geistlichen Höhenflügen und der Ausnahmesituation des Pilgerns und Urlaub-Nehmens wieder im Alltag landet? Zwischen Arbeit und Anspannung, Windeln und wunderbarer Familie? Im «Herr der Ringe» realisiert der Hobbit Bilbo irgendwann, dass der schmale Trampelpfad vor seiner Haustür tatsächlich derselbe ist, der bis in die grössten Abenteuer, aber auch bis hin in die Finsternis führt: «Die Strasse gleitet fort und fort / weg von dem Ort, wo sie begann / weit überland, von Ort zu Ort / ich folge ihr, so gut ich kann … und wohin dann? Ich weiss es nicht.»
Typisch für diesen Beginn einer Heldenreise ist, dass man sich kaum bewusst macht, was das eigene Unterwegssein bedeutet. Und noch viel weniger denkt man darüber nach, was es bedeutet, wieder zurückzukehren.
Das Übergangsritual
Der christliche Mystiker und Therapeut Alexander Shaia hatte schon länger der Eindruck, dass er irgendwann einmal den Jakobsweg gehen sollte. 2012 wurde das konkret. Er hatte überraschend Zeit. Schnell bereitete er sich auf die Wanderung vor – und bewältigte sie. Doch dann war er am Ziel. Am Ziel? Shaia gibt zu: «Ich bemerkte, dass meine innere Reise noch immer so mühsam voranging wie es unterwegs der Fall gewesen war», und er ergänzt: «Als ich über meine Erfahrung und die Erfahrungen vieler anderer Pilger, deren Geschichten ich hörte, nachdachte, wurde mir klar, dass ein Handbuch wünschenswert wäre, das Pilgern bei der Vorbereitung ihrer Heimkehr hilft.» Das war der Startpunkt für sein jährliches Gehen des Jakobswegs und sein Denken darüber hinaus.
Was ist, wenn du zurückkehrst?
Das Zurückkehren ist – eigentlich – ein integraler Bestandteil des Losgehens auf jeden Pilgerweg. Gleichzeitig ist es der am meisten vernachlässigte Bereich. Shaia berichtet: «Nicht alle, aber die meisten Pilger, die ich bislang kennengelernt habe, reden von gewissen Schwierigkeiten nach ihrer Heimkehr, darunter eine Art Orientierungslosigkeit.»
Konkret: Unterwegs lebt man nur aus einem sehr begrenzten Rucksack. Alles ist überschaubar. Einfach. Aber dann kommt die vergangene Realität zurück und überschwemmt uns mit Möglichkeiten. Und nun? Shaia behauptet: «Das Heimkommen findet nicht nach dem Jakobsweg statt! Vielmehr ist das Heimkommen der letzte, wesentliche Teil der Reise, der uns langsam lehrt, wie wir die Veränderungen, die unterwegs in uns wach geworden sind, in die Tat umsetzen können.»
Die Basis zum Zurückkehren ist das Losgehen
Alexander Shaia stellt klar, dass das gute Ergebnis einer Pilgerreise – wie sie auch immer aussehen mag – von ihrer Vorbereitung, ihren Erwartungen abhängt. Er hat fünf Tipps dazu:
1. Such dir einen Vertrauenspartner oder Mentor und bitte diese Person, nach deiner Rückkehr Zeit mit dir zu verbringen und deinen Erzählungen und Gedankengängen zuzuhören.2. Nimm eine innere Haltung ein, die dich im Moment bleiben lässt.
3. Lerne die Ungewissheit sowie ein gewisses Angstgefühl als nötige innere Begleiter schätzen.
4. Denk darüber nach, was sich an deinem Leben ändern sollte.5. Mach provisorische (vorsichtige!) Pläne sowohl für die Zeit direkt nach dem Ende deines Wegs als auch für die Zeit direkt nach deiner Heimkehr.
Damit unterstreicht er, dass eine Pilgerreise, wie auch immer sie aussieht, erst nach der Rückkehr einen wirklichen Wert in sich trägt.
Die Heldenreise
Praktisch jeder Hollywood-Film ist nach dem Schema der Heldenreise aufgebaut. Unser Alltag scheint zunächst total anders zu sein, doch bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die Schritte der Heldenreise auch hier gelten. Ich mache mich – vielleicht entgegen Schwierigkeiten und Widerständen – auf den Weg. Und ich erlebe, dass so archaische Dinge wie «das Überschreiten der ersten Schwelle» oder «ein Weg der Prüfungen» hier tatsächlich eine Rolle spielen.
Urlaub mit Sinn
Václav Havel, Autor und einstiger tschechischer Präsident, sagte einmal: «Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht.»
Tatsächlich ist eine Pilgerreise, ob auf dem Camino in Richtung Santiago de Compostela oder in eine ganz andere Richtung, eine ganz besondere Auszeit. «Warum gehe ich?», ist eine Frage, die jeden Pilger dabei begleitet. Aber wie geht es anschliessend weiter?
Nach Hause ist nicht nach Hause
«Während wir nach Hause reisen und wenn wir dort angekommen sind, kann es uns sehr helfen, eine Haltung beizubehalten, als wären wir noch auf dem Camino. Wir als Menschen der westlichen Welt neigen dazu, uns dem Druck auszusetzen, über alles sofort wissen zu müssen, was es für uns bedeutet.
Nach unserer Rückkehr brennt es uns vielleicht auf den Nägeln, einen Schlussstrich unter die Erfahrung zu setzen, eine gute Geschichte davon zu erzählen, die schönen Momente festzuhalten, uns von den schmerzhaften Momenten zu distanzieren und Verwandte und Bekannte zu einer grossen Feier einzuladen. Im Anschluss fangen wir dann an, unsere Fotos und Erinnerungsstücke wegzupacken, damit das Leben weitergeht und wir das nächste Highlight planen können…»
Alexander Shaia macht sehr klar, dass die Rückkehr nach einer Pilgererfahrung kein Highlight ist, das wir anderen sofort weitergeben können. Tatsächlich kann Pilgern erst einmal Fragen aufwerfen und Wunden verursachen.
Zurück
Albert Camus hat einmal gesagt: «Die Aufgabe eines jeden Menschen besteht in nichts anderem als jener langen Reise mit dem Ziel, über den Umweg der Kunst die zwei oder drei grossen und einfachen Bilder wiederzufinden, aufgrund derer sich sein Herz zum ersten Mal geöffnet hat.»
Diese Aussage hilft dabei, die eigene Pilgererfahrung einzusortieren. Was bleibt?
- Wertvolle Gegenstände: Das beginnt beim Pilgerpass und hört beim gefundenen Stein noch lange nicht auf.
- Eigene Ideen: Wer ein Tagebuch schreibt, kann darauf zurückschauen, was er mit sich selbst und Gott erlebt hat.
- Austausch: Die Begegnung mit anderen, die ähnliche Pilgererfahrungen gemacht haben, ist eine grosse Bereicherung.
- Natur: Wer sich mindestens einmal pro Woche viel in der Natur bewegt und regelmässig zu Fuss unterwegs ist, aktiviert sein Körpergedächtnis, stimuliert alle Sinne, weckt Erinnerungen und setzt Endorphine frei, durch die er sich wohlfühlt.
Das Ziel
Alexander Shaia ist den Camino, den Jakobsweg, seit sechs Jahren jährlich gelaufen. Seine Eindrücke und vor allem sein «Danach» fasst er in dem Buch «Rückkehr vom Jakobsweg» zusammen. Dabei beleuchtet er das Unterwegssein genauso wie das Wieder-Ankommen im eigenen Alltag.
Zum Thema:
Der Weg ist das Ziel: Pilgern – zwischen Entschleunigung und spirituellem Trend
Neu im Kino: «Ich bin dann mal weg» – der Pilger-Bestseller als Film
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Autor: Hauke Burgarth / Alexander Shaia
Quelle: Livenet / „Rückkehr vom Jakobsweg“