Navid Kermani
Schriftsteller Kermani beklagt Glaubensabbruch
Der Schriftsteller Navid Kermani hat das Verschwinden der Religion und damit den Verlust kulturellen Wissens bedauert. Ohne die Kenntnis der eigenen Wurzeln neigten die Gesellschaften zu Fundamentalismus.
Der Schriftsteller und Literaturpreisträger Navid Kermani hat das Verschwinden der Religion aus der modernen säkularen Gesellschaft beklagt. In einem Interview mit der Zeitschrift Publik-Forum erklärte der deutsch-iranische Publizist: «Das Verschwinden der Religion bringt gewaltige Verluste und Gefahren mit sich.»
Die Kulturen seien «zutiefst geprägt und durchdrungen von religiösen Motiven und Haltungen». Wenn der Zugang zur Religion abhandenkomme, gehe auch der Zugang zum kulturellen Erbe der Literatur von Hölderlin, Goethe, Schubert, Beethoven und Gryphius verloren, aber auch zur Bibel. Kermani fürchtet, dass dort, wo die Religion auf dem Rückzug ist, «früher oder später auch die Kultur verschwindet» und einem alles dominierenden Kapitalismus weichen muss.
Der Schriftsteller, der 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, sprach sich dafür aus, religiöse Werte und Traditionen weiterzugeben. Eine Aufgabe von Erziehung besteht seiner Ansicht nach darin, nachfolgenden Generationen die Möglichkeit zu vermitteln, dass man glauben kann. «Die Freiheit zum Unglauben kommt ja erst, wenn man weiss, was man ablehnen kann», sagte Kermani. Seiner Ansicht nach gibt es «eine Sehnsucht nach Religion im Gewand der Kultur».
«Kulturelle Amnesie»
Beunruhigt zeigte sich der Schriftsteller über das Erstarken der Verbindung von Religion und nationaler Identität. Fundamentalisten seien überall auf dem Vormarsch. Nach seiner Beobachtung neigten Gesellschaften ohne Kenntnis der eigenen Wurzeln am ehesten zu Fundamentalismus, Nationalismus und zur Fremdenfeindlichkeit. Die «kulturelle Amnesie» in der arabischen Welt sei noch grösser als in Europa, konstatierte der habilitierte Orientalist.
Die jahrhundertealte Volksfrömmigkeit und Religiosität des Islam sei geprägt gewesen von einer lebendigen Mystik, die die ganze Kultur geschaffen habe. Der Islam der Theologen und der legalistische Islam der Buchstaben und Gesetze hätten das verdrängt. Ohne die Mystik, die Poesie, die Geschichten und die Musik habe der Islam «keine Möglichkeit, mit den harten Buchstaben des Korans umzugehen», erklärte der Schriftsteller in dem Interview.
Christliche Sexualmoral vs. «Anything-goes»
Die christlichen Kirchen als Institutionen sieht Kermani in einer Krise. Auch wenn die «Wucht der Empörung» in der Gesellschaft schwinde, rechnet Kermani nicht damit, dass sich die katholische Kirche bald von den Folgen der Missbrauchsfälle erholt. Zudem werde die weltliche Macht der Kirche nicht mehr akzeptiert. Zu einzelnen Streitpunkten wollte sich Kermani nicht äussern.
«Allgemein kann ich vielleicht so viel sagen oder eingestehen, dass die katholische Sexuallehre auf mich etwas Verkrampftes und Unlebbares ausstrahlt», erklärte der Publizist. Bereits als Jugendlicher habe er das als weltfremd empfunden. Dennoch sollte sich christliche Sexualmoral unterscheiden von einer «Anything-goes» Haltung. «Wenn man Sexualität als etwas Heiliges begreift, wird sie nicht beliebig oder frei verfügbar», erklärte Kermani. «Die Regenbogenfahne alleine wäre mir zu oberflächlich.»
Wie sieht Kermani letztlich die Zukunft der christlichen Religion? Das Christentum verfüge noch über «sehr viele vom Glauben beseelte Menschen und viele religiöse Strukturen», erklärte der Schriftsteller, und weiter: «Die Kirche besteht ja nicht aus Würdenträgern, die man blöd oder ungeeignet findet. Sie reicht über Personen und Generationen hinaus. Und also auch über Ihren und meinen Horizont.»
Navid Kermani wurde 1967 in Siegen als Sohn iranischer Eltern geboren. Der Schriftsteller, Publizist und habilitierte Orientalist hat zahlreiche Kultur- und Literaturpreise für sein Schaffen erhalten. 2015 wurde Kermani mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der Preis wird jährlich anlässlich der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche verliehen und würdigt Persönlichkeiten, «die in hervorragendem Masse vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen» haben.
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
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Autor: Norbert Schäfer
Quelle: PRO Medienmagazin