Putins Wandel

Vom «frommen Christen» zum machtbewussten Despoten

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Patriarch Kyrill und Präsident Putin
Bis zu den Kriegsgräueln in der Ukraine galt Putin zwar als fanatischer Orthodoxer, wurde aber immerhin für einen gläubigen Christen gehalten. Zuletzt aber entpuppt er sich als menschen- und gottesverachtender Despot. Was geht in seinem Kopf vor?

Kirchenmänner, die ihn schon lang und aus der Nähe kennen, glauben an einen radikalen Wandel in Putins Grundhaltung. So Theodoros II., Oberhirte der Orthodoxen in Afrika, früher jahrelang Vertreter der Kirche von Alexandria in Russland: «Putin war ein gläubiger Christ, das weiss ich aus engster Erfahrung.»

Die Verwandlung in einen nur mehr frömmelnden Gewaltherrscher schreibt Theodoros Putins ausuferndem Machtrausch zu: «Zunächst glaubte er, ein neuer Zar zu sein.» Die Alleinherrschaft habe ihn aber vollends verblendet. «Er geht weiter in die Kirche und bekreuzigt sich, lässt im gleichen Moment in der Ukraine Menschen und sogar Kinder töten. Das kann man nicht miteinander vereinbaren. Sein neuer Glaube ist die Herrschaft des Stärkeren! Er frömmelt nur noch im Interesse von Moskaus postkommunistischem Imperialismus.» Dahinter steckt aber mehr.

Unheilvoller Einfluss von Solschenyzin

Eine ähnliche Veränderung der Geisteshaltung war schon beim berühmten Schriftsteller Alexander Solschenizyn zu beobachten. Derselbe, der in kommunistischen Straflagern – die er im «Archipel Gulag» beschrieb – vom Atheisten zum tief innerlichen orthodoxen Christen geläutert war, entpuppte sich mit der Putin-Zeit als pseudoreligiöser russischer Nationalist, als Verkünder der Erlösung Russlands vom angeblich verderblichen westlichen Einfluss. Als sich Solschenyzin und Putin 2007 trafen, fanden sich zwei Gleichgesinnte.

So erwies sich Solschenizyn als Prophet jener Entwicklung in Osteuropa, nach der die Befreiung von der kommunistischen Diktatur nicht in der liberalen Demokratie, sondern im Nationalismus und neuer Unterdrückung endet. Sogar den jetzigen Überfall auf die Ukraine hat der Schriftsteller schon damals im Voraus gerechtfertigt, als er Putin wissen liess: «Dazu kommen die Versuche der Nato, Teile der zerfallenen UdSSR in ihre Sphäre zu ziehen, vor allem – was besonders schmerzlich ist – die Ukraine, ein mit uns eng verwandtes Land.»

Spuren führen nach Zollikon

Putins Hinwendung zu einer «Religion der Macht» lässt sich aber nach viel weiter zurückverfolgen. Diese – wie wir inzwischen wissen – wichtigste Spur zur Herausschälung des gewissenlosen Machtmenschen Putin führt ausgerechnet in die Schweiz. In Zollikon lebte von 1938 bis zu seinem Tod 1954 völlig unbeachtet der russische Emigrant Iwan Iljin. Als philosophischer Querdenker war er schon nach der Oktoberrevolution den sowjetischen Machthabern verdächtig, wurde aber nicht ernst genommen.

Die Kommunisten verzichteten daher auf seine Liquidierung. Sie schoben Iljin 1922 mit anderen Dissidenten auf einem der so genannten «Philosophenschiffe» ins Ausland ab. In Berlin wurde er einer der ersten Verehrer und Bewunderer Adolf Hitlers. Was nicht verhinderte, dass er als erklärter russischer Nationalist ins Visier der Gestapo geriet. Sie verhängte über ihn zunächst Schreib-, dann auch ein Aufenthaltsverbot. Iljin setzte sich in die Schweiz ab. Locarno und Genf waren seine ersten Stationen.

Ein Denker Russlands

1938 wurde ihm die Niederlassung an der Goldküste des Zürichsees gestattet, allerdings unter der Auflage, sich jeder politischen Betätigung zu enthalten. Sein Exil in Zollikon wurde daher zu jener Schreibstube, in der er Werke verfasste, die ihn lang nach seinem Tod 1954 postum zum einflussreichsten Denker für Putins Russland machen sollten: So mitten im Weltkrieg 1944 das programmatische Werk für ein nachkommunistisches Russland: «Wesen und Eigenart der russischen Kultur», verlegt in Affoltern am Albis.

Der neue Heilsbringer

Dieser obskure Druck bei einem Winkelverlag trug natürlich nicht zur Bekanntheit des Werkes bei. Ebenso wenig zur Verbreitung und richtigen Einschätzung seiner brisanten Ideen von einem neuen Russland als autoritärem Heilsbringer und womöglich Eroberer der gesamten Welt. Doch in den achtziger Jahren erhielt Iljin seinen entscheidenden Leser und Schüler: den im DDR-Dresden stationierten sowjetischen Geheimdienstler Wladimir Putin. Zu seinen Aufgaben gehörte die Sichtung der russischen Exilliteratur in deutscher Sprache.

KGB-Offizier Putin als begeisterter Leser

KGB-Oberstleutnant Putin bgeisterte sich für Iljins Vision von einem wieder grossmächtigen, durch einen erleuchteten Führer geleitetes Russland. Dieses Konzept hat er gleich 1990 bei seiner Rückkehr nach Petersburg mitgebracht, es von Anfang an zielstrebig Schritt um Schritt verwirklicht. Der Westen und seine Christen haben ihn aber nicht durchschaut, nicht an einen Tag geglaubt, an dem nun der evangelische Bischof mit seiner Familie aus Moskau fliehen musste, weil er Putins «heiligen Krieg» in der Ukraine nicht segnen wollte!

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Datum: 12.04.2022
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

Kommentare

Interessante Einsichten. Ich frage mich aber, ob wir im Westen nicht mit verschiedenen Massstäben messen, wenn wir Putin vorwerfen, er 'lässt im gleichen Moment in der Ukraine Menschen und sogar Kinder töten.' und die Angriffskriege des Westens in den letzten Jahrzehnten irgendwie rechtfertigten. Eine weitere gesellschaftspolitische Frage drängt sich auf: Ist der Westen moralisch tatsächlich dem Osten überlegen? Übersehen wir nicht den familienpolitischen Niedergang und die zunehmend anti-christlichen Prägungen des Westens? Ist eine liberale, aber offensichtlich gesteuerte, Demokratie einer konservativen Autokratie vorzuziehen? Krieg ist verwerflich, sei er offen oder verdeckt geführt.

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