Joel Blunier
«Der Gemeinsinn bröckelt in unserem Land»
Wenn wir mit dem Virus beschäftigt sind, verfliegen deswegen die anderen Probleme der Gesellschaft nicht. Joel Blunier, der Geschäftsführer der 1999 gegründeten PROSPERITA Stiftung für die berufliche Vorsorge, sorgt sich um die Sozialversicherung, wie er im Interview mit dem EGW-Magazin «wort+wärch» sagt.wort+wärch: Die Rentenreform ist nötig und seit langem
angedacht. Warum ist sie bisher gescheitert?
Joel Blunier: Weil viel zu viele
Interessen einander gegenüberstehen, die stark genug sind, den nötigen
Kompromiss zu torpedieren. Grundsätzlich gelingt keine Reform ohne Mehrkosten
einerseits und ohne Leistungsverzicht andererseits. Die politische Linke
verweigert den Leistungsabbau; die Arbeitgeber wollen keine Mehrkosten. So hat bisher
leider keine Vorlage beim Volk Zustimmung gefunden.
Dabei ist das erneute Abrutschen der AHV in die roten Zahlen absehbar.
Und die Pensionskassen sind in Schwierigkeiten.
Den Umwandlungssatz können
die Pensionskassen nur theoretisch senken, denn sie müssen den obligatorischen
Teil der Altersguthaben trotzdem immer zwingend mit 6,8 Prozent in eine Rente
umwandeln. Der Handlungsspielraum der Pensionskassen ist sehr begrenzt.
Zu einer wirklichen Reform wird es wohl erst kommen, wenn entweder grössere Pensionskassen straucheln und illiquid werden oder wenn die AHV längerfristig ein strukturelles Defizit einfährt und die Renten gefährdet sind. Solange dies nicht der Fall ist, redet man die Probleme klein – Geld ist ja noch vorhanden. 2019 erzielten die Pensionskassen eine hohe Rendite; da sinkt der Reformwille weiter. Und in diesem Krisenjahr denkt man an alles andere, aber nicht an die Rentenreform. Viele KMU laufen auf dem Zahnfleisch – ein Rentenausbau ist daher illusorisch.
Was sagen die erfolglosen Anläufe zur Rentenreform über
unseren Gemeinsinn?
Der Gemeinsinn bröckelt in
unserem Land. Viele sind fokussiert auf sich und ihr Umfeld. Kleine zusätzliche
Belastungen sind ihnen zuwider. Auf individueller Ebene verstehe ich aber
durchaus, dass sich eine Frau gegen ein höheres Rentenalter stemmt, nachdem sie
ihr Leben lang geschuftet hat und wenn die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für
ältere Arbeitnehmende sehr eingeschränkt sind. Insgesamt aber haben die Leute
die Nachhaltigkeit der Sozialversicherung zu wenig im Blick
Steht der Generationenvertrag auf dem Spiel?
Unser Drei-Säulen-System ist
eine einzigartige Errungenschaft. Die Ausgewogenheit ist wichtig: Es geht nicht
an, die erste Säule auf Kosten der zweiten auszubauen. Würde die gesamte Last
auf der ersten Säule liegen, müsste die erwerbstätige Generation viel mehr für
die Senioren arbeiten. Dadurch würde die Unterstützung für die AHV ins Wanken
geraten. Die Jüngeren würden sich dagegen wehren, für die immer länger lebenden
Senioren (die Renten auf einem Niveau beziehen, das nicht zu halten ist) noch höhere
Beiträge zu zahlen. Den aktuellen AHV-Abzug vom Lohn finde ich tragbar. Sind
die Sozialabgaben so hoch wie etwa in Frankreich, wächst die
Schattenwirtschaft.
Es ist richtig, dass die erste Säule die Basisversorgung generationenübergreifend herstellt und die zweite Säule das Eigeninteresse anspricht (das selbst angesparte Guthaben kann später als Rente oder Kapital bezogen werden). Die dritte Säule ist ein zusätzlicher Anreiz vorzusorgen. Und für den Notfall hält der Staat Ergänzungsleistungen bereit. Der Generationenvertrag wird bewahrt durch massvolle Beiträge und eine Balance zwischen Geben (jetzt) und Nehmen (später). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, schwindet die Bereitschaft zur Solidarität.
Wie stark spüren Sie in der Sozialpolitik die
Instant-Mentalität (ich will jetzt leben – was kümmert mich mein Alter)?
Sehr. Für die meisten
Jüngeren ist Altersvorsorge kein Thema. 40 Jahre vorauszudenken liegt ihnen
fern, zumal bis dann noch sehr viel geschehen kann. Viele leben nach der Devise
«carpe
diem – nutze den Tag».
Zudem ist es grundsätzlich auch keine per se christliche Haltung, sich vor
Altersarmut oder allgemein vor der Zukunft zu fürchten. Doch wir sind in der
Schweiz gesetzlich verpflichtet, für das Alter vorzusorgen.
Das Ganze wird kompliziert durch die Umverteilung und die
Aussicht der Jungen auf deutlich kleinere Bezüge…
Wir müssen uns vor einer
einseitigen Betrachtung hüten. Die heutigen Rentner haben lange gearbeitet,
teils schon vor 1985 Guthaben angespart (in Personalfürsorgestiftungen von Unternehmen);
sie haben viel eingezahlt und das System zum Funktionieren gebracht.
Es ist aber eine Tatsache, dass wenn wir immer länger leben, die Bezüge aus den Sozialversicherungen geringer werden. Ich habe meinen Kindern immer erklärt: Wenn wir ein Ferienbudget von 1’000 Franken für eine Woche haben und dann entscheiden, zwei Wochen unterwegs zu sein, verdoppelt sich das Feriengeld nicht von Zauberhand, sondern die täglichen Ausgaben müssen sinken, damit es bis zum Schluss reicht.
Was muss in der Rentenreform konkret geschehen?
Wir müssen länger arbeiten.
Ein zusätzliches Jahr arbeiten und somit ein Jahr weniger lang Rente beziehen
ist ein doppelter Gewinn fürs ganze System. Zudem brauchen wir ein flexibles
Rentenalter, das es erlaubt, früher unter finanziellen Abfederungen in Pension
zu gehen. Die Stiftung FAR im Baugewerbe setzt eine solche Lösung bereits seit
langem um. Und schliesslich steht die Senkung des gesetzlichen
Umwandlungssatzes an. Pflästerlipolitik reicht nicht aus.
Wie agiert Ihre Pensionskasse, die PROSPERITA, in diesem
Umfeld?
Die PROSPERITA hat ab nächstem
Jahr einen Umwandlungssatz von 5,8 Prozent. Das ist bereits ein Prozent tiefer
als der gesetzliche Satz von 6,8 Prozent. Für uns heisst das aber immer noch,
dass wir für einen Neurentner, der mit einem Guthaben von einer halben Million
in Rente geht, am folgenden Tag 100‘000 Franken zusätzlich rückstellen müssen.
Woher kommt dieses Geld? Die aktiven Versicherten – unter anderen ich selbst – erhalten
eine tiefere Verzinsung oder müssen einen tieferen Deckungsgrad hinnehmen. Weil
der gesetzliche Umwandlungssatz die gestiegene Lebenserwartung nicht
berücksichtigt, zahlen wir bei jedem Neurentner drauf – und es sind keine
kleinen Summen!
Wenn wir vom Umgang mit Geld reden: Wie bestimmt es unser
Leben?
Dass die Menschen nur eigennützig
sind, wäre zu pauschal gesagt. Grundsätzlich neigt der Mensch zum Egoismus.
Aber im Vergleich zu anderen Ländern wird von Schweizern mehr gespendet. Wir
haben auch mehr.
Leidet der Gemeinsinn in der multikulturellen Schweiz, wenn
mehr Gemeinschaften für sich leben?
Das Stammesdenken hat sicher
zugenommen. In der globalisierten Welt sucht der Mensch Sicherheit in einem
Cocon, der Familie, dem Clan – dort wo man den anderen kennt und ihm vertrauen
kann. Da hilft man sich auch gegenseitig. Solche Gemeinschaften grenzen sich aber
auch eher von anderen ab.
Mit den Sozialversicherungen besteht ein grösserer Raum, in
dem die Menschen miteinander solidarisch sind.
Ja, gestern habe ich das
einem Eritreer aufzuzeigen versucht, der in seiner Heimat keine Zukunft sieht.
Ich sprach von der Willensnation Schweiz. Sie bindet uns zusammen, auch wenn
wir nicht demselben Stamm angehören.
Braucht es eine christliche Pensionskasse?
Das BVG gibt einen Rahmen.
Die Frage ist dann, ob wir Christen uns da hineinbewegen oder das Handeln
anderen überlassen. Die PROSPERITA wurde gegründet, um im gegebenen Rahmen –
man mag ihn als Korsett empfinden – christlich-ethisch zu handeln. Wir fragen
bewusst, welche Aktien und welche Immobilien aus christlicher Sicht gekauft
werden sollen oder welche Leistungen und Angebote wir für christliche
Organisationen und Werke anbieten wollen.
Zur Person
Joel Blunier ist seit 2016 Geschäftsführer der 1999 gegründeten PROSPERITA Stiftung für die berufliche Vorsorge.
Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin «wort + wärch».
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Autor: Peter Schmid
Quelle: wort+wärch