Kinotipp «Amazing Grace»
Gospel-Queen mit legendärem Gottesdienst
Die verstorbene «Queen of Soul» Aretha Franklin feierte auf dem Höhepunkt ihrer Karriere einen Gottesdienst, um ihre geistlichen und musikalischen Wurzeln zu würdigen. Das daraus entstandene Album «Amazing Grace» wurde zum meistverkauften Gospelalbum aller Zeiten. Nun zieht der Streifen mit viel Gospel-Charisma die Kinozuschauer in ihren Bann.Wer schon beim Trailer Hühnerhaut bekommt und den Tränen nahe ist, kann in dem Film einiges an berührenden Momenten erwarten. So erging es mir und ich war gespannt auf ein Musikgottesdienst-Erlebnis der Superlative.
Der bombastische Gospel-Event wurde 1972 filmisch festgehalten, jedoch wegen Schwierigkeiten nie veröffentlicht. Umso mehr wird nun der Kinobesucher beschenkt, unter anderem mit dem Film-Höhepunkt, einer elfminütigen Version des gleichnamigen Klassikers «Amazing Grace».
Das 89-minütige Zeitdokument
Die Kamera zoomt näher und näher auf die Missionary Baptist Church in Los Angeles, worin die Musiker und die Kamera-Crew mitten in den Vorbereitungen der Aufnahmen stecken. Damals ahnte noch niemand, dass technische und juristische Schwierigkeiten die Veröffentlichung erst auf das Jahr 2018 ermöglichten.
So ist denn auch die Einleitung für den ersten der zwei Konzert-Abende, dass man sich als Zuschauer doch gut benehmen und freundlich mit der Kamera umgehen solle, augenzwinkernd durch den damaligen Gospel-Crack Reverend James Cleveland.
Nach seiner Begrüssung der Soul-Queen Nummer 1 tritt Aretha Franklin auf die Bühne zum Southern California Community Chor. Sie wird den Abend weiterhin in dieser schlichten Art und völlig ohne Starallüren zelebrieren.
Queen krönt Karriere
Dann geht es mit dem «Wholy holy» von Marvin Gaye los, was schon mal mächtig in die Beine geht und die Audienz zum Mitwippen bringt. Wobei die Soullady selber das Piano spielt und von Beginn weg ihre eigene Band mit packender Musik die beiden Abenden unterstützt.
Und vom ersten Ton an ist klar: Dies ist eine Würdigung Gottes und durchdrungen von Danksagung für Jesus, der Aretha Franklin mit dieser aussergewöhnlich prächtigen Stimme beschenkt hat. Ein Gottesdienst, kein gewöhnliches Konzert.
Glaube, Glück und Gefühle von der Seele gesungen
Und dies zu einem Zeitpunkt, wo sie höher in der Musikszene nicht steigen kann; mit 20 Studioalben und elf Nummer 1-Hits wie «Respect». Die Bühne wird zur Kanzel.
Zum zweiten Song leitet Reverend Cleveland mit den Worten über: «Hier gehen wir direkt ins Herz der Baptistenkirche», und singt bei einigen Gospel-Perlen selber mit: «What a friend we have in Jesus», der umgeschriebene Klassiker «You've got a friend» oder das «Mary don't you weep», welches eine Referenz an die grossartige Gospel-Vorreiterin Mahalia Jackson war. So ist es auch Aretha Franklins authentischer Gesang, der wie dieses Vorbild oder Gleichgesinnte wie Janis Joplins, Einzigartigkeit und Berühren des Publikums ausmacht. Nicht von ungefähr stammt das Streben junger Künstler unserer Zeit genau nach dieser Transparenz der Gefühle.
Durchlässig: Segen durchlassen
Dazu passt auch die Haltung der Sängerin im Film. Manchmal fast weggetreten, erlebt man eine äusserst erfolgreiche Musikgrösse, die sich völlig zurücknimmt und demütig ein Kanal für fliessende Kraft vom Himmel ist. Sie lebt die Texte, die vor Hingabe, Dankbarkeit und Vertrauen triefen.
Spätestens nach dem weltberühmten «Amazing Grace» ist das Publikum hin und weg, was sich auch auf den Kinobesucher überträgt. Ein wiederkehrendes, omnipräsentes Bild sind berührte Zuhörer mit Tränen in den Augen; laut zustimmend, klatschend, aufspringend und tanzend. Mitten drin beispielsweise Mick Jagger, der es nicht in der hintersten Reihe aushält und plötzlich zuvorderst auftaucht.
So sind Auflockerungen in dieser Intensität auch stimmig. Die Aufnahmen zeigen Musik-Proben der Band oder eine eindrückliche Rede von C.L. Franklin, Baptistenprediger, Bürgerrechtsaktivist und Arethas Vater.
Verstärkt und starkes Finale
Der hochstehende Chor durchsetzt während beiden Abenden die Lieder und wirkt wie ein Verstärker, wenn Franklins Stimme auf der höchsten Höhe ist, und breitet nochmals eine unerwartete Dimension mehr im Lied aus.
Als Abschluss durchlebt Aretha Franklin die Zeile «My Soul is so glad» (Meine Seele ist so froh), kann beinahe nicht aufhören und lässt nochmals das Publikum so richtig mitpulsieren.
Es gibt Momente im Journalisten-Alltag, da fällt es schwer sachlich zu bleiben. Das versprach schon die Ansage «Vergiss Taschentücher, nimm ein Handtuch mit!» (New York Times).
So wische ich Reste meiner Tränen ab, verstaue die Notizen und lass mich, wie so oft, von den Strassen der Stadt schlucken…doch die hellen Schwingungen im Herzen bleiben.
Der Film läuft am Wochenende vom 11. und 12. Januar 2020 noch in Zug, Basel, Bern und Zürich.
Erster Song des Gottesdienstes: «Wholy, holy» von Marvin Gaye:
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Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet