Landes- und Freikirchen zukunftsfähig machen

An einer Tagung des Landeskirchen-Forums in Bern am 24. Juni 2006 hat Pfr. Dr. Gottfried W. Locher, Vizepräsident des Reformierten Weltbunds, in einem Vortrag Wege zu einer „inneren und äusseren Umkehr“ der reformierten Kirchen aufgezeigt. Er betonte die gemeinsamen Wurzeln von Landes- und Freikirchen in der westlichen Tradition.

Locher schilderte den 100 Teilnehmenden der Tagung eingangs die Mühen, einem Gast aus der Ferne das Wesen der reformierten Kirche in der Schweiz zu erläutern. Die kantonalen Kirchen – nicht alle in der Reformationszeit entstanden und nicht alle öffentlichrechtlich anerkannt – sind nicht über ein Bekenntnis zu definieren, eher noch als synodal verfasste Kirchen ohne Bischof zu beschreiben.

Die Tatsache, dass es neben dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund den Verband Evangelischer Freikirchen und Gemeinden VFG gibt, müsse den ausländischen Besucher weiter verwirren. Landeskirchen und Freikirchen haben gemäss Locher „je ihre Clichés voneinander: Ihr habt den Glauben verloren, sagen die Einen. Ihr habt die Aufklärung verschlafen, sagen die Andern. Wir vertreten ‚die Anliegen des Schweizerischen Protestantismus’, sagen die Einen. Wir sind eine ‚dritte Kraft’ zwischen den zwei grossen Kirchen, sagen die Andern.“

Warum grenzen sich Landeskirchen und Freikirchen voneinander ab?

Ein Blick über die Grenzen macht es noch deutlicher: „Es gibt nicht einfach ein ‚reformiert’, sondern verschiedenartige, ja auch widersprüchliche“ Gestalten reformierter Kirche. Die meisten reformierten Kirchen weltweit seien Minderheitskirchen, gab Locher zu bedenken. Die Lutheraner hätten ein alle verbindendes Bekenntnis, die Reformierten nicht. Für den bis Mitte 2005 mit den Aussenbeziehungen des SEK betrauten Theologen ist klar: „Die Tatsache, dass die reformierten Landeskirchen sozusagen mit dem Staat verheiratet sind, beeinflusst ihre Lehre und ihr Leben. Sie sehen sich stark in einer öffentlichen Verantwortung, und sie legen Wert auf Offenheit und Vielfalt.“

Wie die Landeskirchen hätten auch die Freikirchen reformierte Wurzeln, „aber ihre evangelischen Früchte schmecken anders“. Und sie reifen heute in einem anderen Klima, da die alten Mehrheitsverhältnisse in der Schweizer Bevölkerung am Abbröckeln sind.

Was die Reformatoren wollten

Im Hauptteil seines Vortrags formulierte Gottfried W. Locher „Anfragen an meine eigene Kirche“. Die erste: „Wo liegen unsere Wurzeln als Kirche?“ Der Referent kritisierte die Gewohnheit vieler Reformierter, sich in Abgrenzung von dem zu definieren, „was die Kirche vor der Reformationszeit war“. Die Reformatoren hätten die Tradition geschätzt, ihren Abbruch vermeiden, die Kirche von Verfehltem reinigen und sie zurück zu den Quellen leiten wollen.

Locher sieht eine „schier unglaubliche Geschichtsvergessenheit“ bei Reformierten. Den reformatorischen Grundsatz „Allein die Schrift“ (sola scriptura) missbrauche man dazu, die Kirchentradition abzuwerten. Dabei würde die Schrift die Auflösung der Landeskirchen und den Aufbau „armer, kleiner und staatsunabhängiger Bekenntnisgemeinden“ nahelegen...

2000, nicht bloss 500 Jahre des Herkommens

Die Reformierten sollen sich laut Locher stärker bewusst werden, dass sie zu einer 2000-jährigen westkirchlichen Tradition gehören. Die Tatsache, dass die Zeit seit der Reformation den letzten Viertel dieser Kirchengeschichte umfasst, brachte der amtierende Vizepräsident des Reformierten Weltbunds spitz auf den Punkt: „Reformierte Christen sind reformierte Katholiken, ob sie wollen oder nicht.“ Und sie sollten sich (im Gegensatz zu den Lutheranern, die sich nach einem Mann benennen) ihrem Namen entsprechend selbstbewusst als Erneuerungsbewegung sehen. „Wir sind Teil der Westkirche, wir kommen aus ihr und sie lebt auch in uns weiter.“

Profil durch Bekenntnis

Die zweite Anfrage betrifft die Unklarheit darüber, was die Reformierten hierzulande glauben. Die Bekenntnisfreiheit der Landeskirchen lässt ihr Profil gemäss Locher nach innen und aussen verschwimmen (die Reformierten Österreichs und Ungarns nennen sich nach dem Helvetischen Bekenntnis Bullingers!). Kurz-Bekenntnisse in den kantonalen Kirchenordnungen seien kein Ersatz, sagte Locher. „Solange wir an der Bekenntnisfreiheit in der jetzigen Form festhalten, führt die Rede vom Profil nirgends hin.“

Was tun? Der Berner Theologe machte einen pragmatischen Vorschlag: Angesichts der Schwierigkeit, neue Bekenntnisse zu formulieren, könnten Synoden beschliessen, „dass das Apostolikum zu den Bekenntnissen zähle“. Und dazu Anwendungsrichtlinien formulieren: „Uns zu verständigen, wie wir die alten Bekenntnisse heute lesen wollen, wie wir sie leben wollen, das wäre eine grosse Chance für alle: für die Kirchgemeinden, für die Landeskirchen und für die evangelischen Freikirchen“.

Ohne Kirchenleitung geht’s nicht

In seiner dritten Anfrage untersuchte Locher die ökumenisch vielbenutzte protestantische Formel von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Zum einen plädierte er dafür, „unsere Stimme auch dort zu versöhnen, wo sie auch Gewicht hat: im landesweiten, im europäischen und im weltweiten Gespräch“.

Zum andern schlug er eine gemeinsame Entscheidstruktur vor. „Zur Kirche gehört die Kirchenleitung, und Kirchenleitung ist nicht zu haben ohne Hierarchie.“ (Auf eine Erläuterung seines umstrittenen Vorschlags, das Bischofsamt einzuführen, verzichtete der Referent.) Überdies sollten die Reformierten ihre Einheit liturgisch, im Gottesdienst, sichtbar machen. Was Schweizer Reformierte in ihren Gottesdiensten erlebten, sei eben gerade nicht typisch für den Protestantismus.

„Wo nötig auch Reformiertes reformieren“

Locher schloss mit dem Aufruf: „Seien wir, in einem ganz wörtlichen Sinne, reformiert reformiert! Will sagen: halten wir uns ans Prinzip, sagen wir ja zu einer Kirche, die heute noch darauf vertraut, dass sie sich ändern muss, wenn sie die Menschen ansprechen will… Reformiert sein heisst, wo nötig auch Reformiertes zu reformieren.“ Die Reformierten sollten nach vorne – zu Christus umkehren. Sie sollten sich jetzt, in einer äusserlich komfortablen Lage, auf die Zukunft einstellen. Der Druck, landeskirchliche Privilegien abzubauen, nehme zu.

Das heisst für Locher: Landes- und Freikirchen sollten sich einander zuwenden – „alle, die wir uns evangelisch nennen“. Denn „schiedlich-friedlich ist nicht gut genug“. Die gegenseitige Abgrenzung verhindere auch, „dass uns die Stärke des jeweiligen Anderen zugute kommt. Können wir uns das leisten?“ Die evangelischen Christen der Schweiz hätten den Weg der „fortschreitenden Verästelung “ und „immer weiterer Spaltungen“ zu verlassen. Die Landeskirchen sollten nicht weiter um sich selbst kurven, sondern sich von anderen Kirchen anregen lassen.

Als Leib von Christus die Welt verändern

„Umkehr ist Umkehr zu Christus hin.“ Der Berner Kirchenmann schloss sein Plädoyer am Johannistag (24. Juni) mit dem Zitat des Täufers, der von Jesus sagte: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ Locher betonte, „dass wir die individuelle Umkehr nicht von der kollektiven Umkehr trennen können“. Denn die Kirche sei der Leib von Christus – und dies sei ganz ernst zu nehmen. „Wir sind als Kirche sichtbarer und erfahrbarer Leib des Auferstandenen auf Erden.“ Die Kirche trage eine unvergleichliche Verantwortung für das Heil der Menschen, sie sei „das unentbehrliche Zeichen des Kommens Gottes für die ganze Welt. Wären wir uns dessen bewusster, wir würden sorgfältiger und liebevoller mit der Kirche umgehen.“

Livenet-Interview mit Gottfried Locher über die Reformierten (2005)
Vortrag von Gottfried Locher vor der Zürcher Kirchensynode über ‚Reformiertes Profil’ (2003)
Homepage des LKF: www.landeskirchenforum.ch

Datum: 27.06.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Kommentar

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