Mennoniten
Den Schmerz teilen, um die Freude zu gewinnen
Janet Richards, Mennonitin aus Pennsylvania, USA
Pfr. Ruedi Reich, Kirchenratspräsident der reformierten Zürcher Landeskirche
Pfr. Daniel von Orelli, Vize-Dekan der reformierten Zürcher Landeskirche
Thomas Gyger, Leiter der Konferenz der Schweizer Mennoniten
Janet Richards: Heilung für alte Wunden in Mennonitenfamilien
„Wir sind gekommen, um uns mit euch versöhnen zu lassen in unserem Herrn Jesus Christus. Wir sind gekommen, um unser Herz weit zu machen für euch, um uns selbst euch zu schenken. Wir haben entschieden, nichts vor euch zurückzuhalten, sondern offen und frei uns euch mitzuteilen. Das griechische Wort für Versöhnung bedeutet gegenseitigen Austausch. Wir sind berufen, unser Leben auszutauschen, uns einander zu schenken. Um das zu tun, ist es notwendig zu erkennen, dass wir das ganze Herz hier mitteilen müssen. Und dass auch ihr euer Herz ganz öffnen sollt. Mit der Freude und dem Schmerz, der Liebe und dem Leid. Mit dem Guten und Starken, auch mit dem Schwachen.
Heute möchte ich euch einen Teil der täuferischen Seele mitteilen, über den selten gesprochen wird, weil es eine tiefe Ehrlichkeit voraussetzt. Ich tue das prophetisch in dem Wissen, dass das, was ich mit euch teilen will, nicht für alle einzelnen Täufer zutrifft oder von allen täuferischen Gemeinden so empfunden wird. Aber in unserer Gegend gibt es so viele Hinweise auf religiöse Gebundenheit, von der wir geheilt werden müssen.
Wir haben erkannt, dass unser ganzes Gemeindeleben und selbst unser Familienleben als Täufer heute weit entfernt sind von der Freude, der Ruhe, der Freiheit und der Liebe, auch von der Zurechtweisung, die Gott von uns möchte. Wir sind geprägt worden durch die Jahre der Verfolgung, und Wunden und Sünden sind über die Generationen hinweg weitergegeben worden. Sie haben Verwüstungen angerichtet in den Herzen der Kinder, die selbst wieder Väter wurden, mit ihren eigenen ungeheilten Wunden. Dabei blieben die Gebundenheiten bestehen durch die festen Bollwerke in Gemeinden und Familien.
Trauer über den Verlust dessen, was hätte sein können, ist ein wichtiger Teil von Versöhnung und Heilung. Es ist Zeit für uns, dieser Trauer Raum zu geben. Es ist Zeit zu sagen: Ja, es ist so, wir haben durch die Geschichte Verluste erlitten. Das hat uns tief geprägt... (weint) ...
Es ist Zeit, dass unsere Herzen den Verlust fühlen dürfen, den wir als Gemeinschaft erlitten haben, und es ist Zeit anzuerkennen, dass wir traumatisiert worden sind. Ich habe ein Statement der Trauer und der Hoffnung aufgrund meiner eigenen Erfahrung verfasst. Ich bin aufgewachsen in einer Familie, die zutiefst von den Traditionen und dem Lebensstil des konservativen Täufertums geprägt war. Die ganze Erziehung geschah unter täuferischen Vorzeichen.
Die Erziehung, die mir meine Eltern gaben, stammte von ihren Vätern und deren Vätern. Sie war zu Zeiten streng und unbeugsam wie der Bann und die Kirchenzucht der ersten Täufer. Hart und unbeugsam wie der Ausschluss bei den Amischen heute noch sein kann. Zucht wurde geübt mit wenig Verständnis für Gnade. In unserer Erziehung und Unterweisung als Kinder fehlte die Freude Gottes. Die Erziehung war geprägt von der Mahnung, keinen Unsinn zu machen, und grossem Ernst. Von einer Kälte, die auch viele unserer mennonitischen Gemeinden im Lancaster County kennzeichnet. Wenn die Eltern uns Kindern pflichtbewusst jeden Abend aus der Bibel vorlasen, war keine Freude dabei zu spüren. Sie schafften es nicht, mit den Kindern zu spielen und zu lachen.
Kirchliche Gesetzlichkeit wurde vom Vater an den Sohn und an die Tochter weitergegeben. Die Wurzeln dieser Gesetzlichkeit gehen zurück auf die frühen Urteile, die unsere Vorfahren über die fällten, die uns richteten. Bei uns zu Hause wurde alles getan, um die Atmosphäre zu kontrollieren und die Kinder von allem Reden und Tun abzuhalten, das die Eltern hätte in Verlegenheit bringen oder sie beschämen können. Ebenso versuchen die Leiter vieler mennonitischer und amischer Gemeinden, die Atmosphäre der Versammlungen zu kontrollieren, damit nichts Peinliches oder Beschämendes geschieht. Kontrolle wird ausgeübt, damit man sich sicher fühlen kann in einer Welt, die über Jahrhunderte den Täufern zu verstehen gegeben hat, dass es keinen sicheren Ort gibt.“
Ruedi Reich: Tragischer Riss in der Zürcher Reformation
„Die Gründer der Täufergemeinde in Zollikon verdankten zwar dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli viel, und vieles verband sie mit ihm und verbindet uns darum auch heute: Die Verwurzelung im Evangelium, die Rechtfertigung vor Gott aus Glauben, die Bereitschaft zur Busse und das Vertrauen auf die Gnade Jesu Christi.
Aber es gibt hier auch Trennendes bis Heute: Die reformierte Kirche hielt an der Kindertaufe fest und anerkennt Kindertaufe und Erwachsenentaufe als gleichwertig. Die Zürcher Täufer und mit ihnen die Taufgesinnten in der weiten Welt üben nur die Erwachsenentaufe, die Glaubenstaufe.
Die Zürcher Reformation ging den volkskirchlichen Weg und erkannte ihre Verantwortung auch für Staat und Gesellschaft. Sie war bereit, für dieses Anliegen auch Kompromisse in Kauf zu nehmen. Die Taufgesinnten gründeten vom Staat getrennte freikirchliche Gemeinden. Sie verweigerten Eid und Militärdienst und waren nicht bereit, obrigkeitliche Ämter zu übernehmen.“
Ruedi Reich: Verrat am Evangelium
„Den freikirchlicher und den volkskirchlichen Weg evangelischen Kircheseins können wir Heutige als gleichwertig verstehen; wir brauchen einander, können voneinander lernen, einander ergänzen.
Diese Erkenntnis hatten weder Staat noch Kirche zur Reformationszeit. Die reformierten Schweizer Kirchen haben die Täuferbewegung verfolgt. Das Unrecht, das taufgesinnten Menschen über Jahrhunderte angetan wurde, war ein Verrat am Evangelium, welchen wir mit tiefem Erschrecken vor Gott bekennen. Dennoch gilt es festzuhalten: Reformierte Kirchen und Täuferbewegung sind Zweige desselben evangelischen Astes am grossen christlichen Baum.
Darum gilt es, sich gegenseitig als Schwestern und Brüder in Christus zu erkennen und zu achten, auch wenn wir unterschiedlichen Traditionen entsprechend unterschiedliche Akzente in unserem Christsein setzen. Die Mitte ist und bleibt unser gemeinsames Bekenntnis zu Jesus Christus. Dieses soll sich in unserem persönlichen Leben und in unserem Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in dieser Welt auswirken. Christus, das Licht der Welt, gibt uns den Auftrag, gemeinsam Salz der Erde, Licht der Welt zu sein, und so Zeichen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu setzen.“
Daniel von Orelli: Was die Landeskirche gern verdrängt
„Es ist gut, dass die leidvolle aber auch ermutigende Geschichte der Täufer in unserem Land neu in Erinnerung gerufen wird. Natürlich weiss ich darum. Natürlich haben wir in der Schule und mehr noch im Studium allerlei über die Täufer gelernt. Aber über die Schuld und Verantwortung der Kirche in dieser Sache wurde wenig nachhaltig gelehrt.
Ich meine, unsere Kirche sollte jenen Männern und Frauen dankbar sein für ihre Treue, für ihre Entschlossenheit, Gott zu vertrauen und dem, was sie bei ihrem Studium der Bibel als Gottes Willen erkannt hatten, mit der Grundüberzeugung: ‚Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen‘.“
Daniel von Orelli: Die Versuchung, der Institution zu dienen
„Wie sehr stand in jenen Zeiten der Verfolgungen die Institution Kirche und ihr Fortbestand und nicht zuletzt die Macht dieser Kirche über Gottes Wort? Ich denke, niemand will das mit Absicht. Kein ‚Diener am Wort‘ will der Kirche mehr gehorchen als Gottes Wort oder seinen Verpflichtungen mächtigen Menschen gegenüber mehr gehorchen als Christus, seinem Herrn. Und doch ist hier eine der gefährlichsten Klippen, an der wir immer wieder vorbeikommen.
Von daher sind wir angesprochen nicht nur in der Tauffrage, sondern – vielleicht noch mehr – in der Frage um die Macht der Institution und die Macht des Wortes Gottes. Sind wir, da, wo wir in einer kirchlichen Institution, wie gross sie auch sei, bereit, uns Anfragen und Impulsen zu öffnen, die Menschen aus ihrer Verantwortung Gottes Wort gegenüber bringen? Sind wir bereit, gegebenenfalls unser Handeln und Leben aufgrund solcher Anfragen neu zu orientieren? oder ist uns die Sicherheit und die Macht der Institution wichtiger und die Möglichkeit, die Verantwortung für die Wahrheit zu delegieren?
Daniel von Orelli: Gott mehr gehorchen – das Vorbild der Täufer
„Ich danke diesen mutigen Frauen und Männern, die der Institution unserer Kirche getrotzt haben und Schwerstes gelitten haben. Sie halten mir, und vielen von uns, diesen unbequemen Spiegel hin. Sie lösen bei mir Erschrecken aus über die Möglichkeiten einer Institution, Schwestern und Brüder mit frommen Worten innerlich und äusserlich zu vernichten, Mitchristen, die nur eins tun: Gott mehr zu gehorchen als den Menschen.
Und ich schliesse zwei Bitten an: Die Bitte an Gott, dass er mir und unserer Kirche vergibt, wo wir so gehandelt haben, und dass er gnädig sei über den Folgen solchen Handelns sowohl bei den Betroffenen als auch in unserer Kirche. Die Bitte auch, dass er in Zukunft mich und unsere Kirche davor bewahre, dass aus Gründen institutioneller Macht der Heilige Geist am Wirken in seiner Kirche gehindert wird.“
Thomas Gyger: Täuferische Absage an Gewalt
„Jesu Leben zeigt den Verzicht auf Aneignung jeglicher menschlicher Macht oder Gewalt. Das Evangelium verbreitete sich zu Beginn vor allem unter einfachen Leuten. Trotzdem war das Christentum nicht mehr aufzuhalten – auch einflussreiche Leute bekehrten sich, bis hin zum Kaiser Konstantin. Der Eintritt der Reichen und Mächtigen hatte aber Folgen für die Kirche. Das Verhältnis der Kirche zu diversen Formen von Reichtum, Gewalt und Macht veränderte sich langsam. Statt Bescheidenheit und Armut fanden sich wieder Pracht und Gold in den Kirchen. Statt Beachtung der Person wieder Verachtung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Anstatt zu befreien, wurde wieder unterworfen.
Im Fahrwasser der Reformation kamen nun die Wiedertäufer langsam zur Überzeugung, dass kein menschliches machtpolitisches Programm je zu sozialer Gerechtigkeit in dieser Welt führen würde, weil die gefallene Menschheit ganz einfach nicht imstande ist, Macht auszuüben, ohne auch von ihr verdorben zu werden. Deshalb entschieden sich die Täufer für eine Trennung von Macht und Gewaltformen in ihrer Welt, um sich Gott, der einzigen Quelle wahrhaftiger Gerechtigkeit, zuzuwenden.“
Thomas Gyger: Geistliches Leben nach dem Vorbild von Jesus
„Die Täufer lasen die Bibel oft in kleinen Gruppen auf der Suche nach Richtlinien für ein Leben in der Nachfolge Jesu Christi. Die Gebote Christi wurden sehr ernst genommen, und die Bergpredigt wurde zur Vorgabe, wie sich das tägliche Leben in der Nachfolge zu gestalten hatte. Ein Leben in der Nachfolge – da waren sich die meisten Täufer einig – konnte nur im Kontext der Gemeinde gelingen. Keine staatliche Macht sollte in Glaubensdingen mitreden dürfen. Darum auch die Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat – die negativen Erfahrungen mit den Kirchen-Hierarchien liessen nur ein Modell als möglich erscheinen: das Bemühen um eine Wiederherstellung der urchristlichen Gemeinde.“
Thomas Gyger: Mennonitisches Erbe heute
„In unserem Erbgut sind noch starke Spuren unseres Ursprungs vorhanden. Wir legen in entscheidenden Fragen Wert auf Konsensfindung unter Einbeziehung einer möglichst breiten Basis. Trotz einer theologisch sehr heterogenen Zusammensetzung sind wir stets bestrebt, die Dinge zusammen zu machen. Auch wenn das viel Zeit und Energie braucht.
In unseren Gemeinden findet sich immer noch ein Geist der Gastfreundlichkeit und des Diensts am Nächsten. Auch ein gewisser Skeptizismus staatspolitischem Machtgefüge gegenüber ist uns geblieben. So haben sich z.B. in den USA nach den Attentaten vom 11. September manche mennonitische Kaufhausbesitzer trotz harter Kritik und gar Beschimpfungen geweigert, in ihren Geschäften amerikanische Fahnen wehen zu lassen oder zu verkaufen.
Mit nationalistischen Themen haben wir etwas Mühe; auch mit geistlichen Themen in Verbindung mit bestimmten Nationen wissen wir nicht recht umgehen. Wegen der Zerstreuung fühlen wir uns mehr als Weltbürger. Zusammenarbeit und internationale Kontakte sind für uns ein wichtiges Anliegen.
In unserer Stellung als Kind der Reformation, aber auch als historisch erste freik Bewegung erfreuen wir uns über den Dialog und die Zusammenarbeit sowohl mit Freikirchen unterschiedlichster Prägung als auch mit den Volkskirchen. Wir stellen mit Erstaunen fest, dass wir als einstiges ‚Enfant terrible‘ der Reformation heute zwischen diesen beiden Kirchenmodellen über eine privilegierte Stellung verfügen. Wir durften auch gelegentlich dazu beitragen, gegenseitig Vorurteile abzubauen.“
Thomas Gyger: Der Retter auf dem Scheiterhaufen
„Im Märtyrerspiegel, einem alten, dicken Buch der Täufer über Verfolgungen, wird erzählt, dass im niederländischen Dorf Asperen der Täufer Dirk Willems von den Behörden gefasst und eingekerkert wurde. Es gelang ihm, aus dem Gefängnisturm zu fliehen, indem er sich an einem Seil auf das Eis herabliess, das den Schlossgraben zudeckte. Als ein Wächter ihn fliehen sah, nahm er die Verfolgung auf. Dirk überquerte das dünne Eis eines Weihers ohne Schwierigkeiten. Unter dem Gewicht seines Verfolgers brach das Eis ein. Als Dirk die Hilferufe seines Verfolgers hörte, kehrte er um, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Der Wächter nahm anschliessend den Täufer wieder fest und führte ihn ab in eine sicherere Zelle. Wenige Tage später wurde Dirk Willems auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
Frühere Livenet-Artikel zur Konferenz:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/189/8009/
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/154/7995/
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/103/7794/
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/154/7823/
Webseite:
www.schleife.ch
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch