Schweizer Freikirchen

Die Stillen im Lande werden politisch

Das Grundsatzpapier, das der Verband der Freikirchen und Gemeinden VFG am Freitag vorgelegt hat, weist eine doppelte Stossrichtung auf: Es fasst die Erwartungen der Deutschschweizer Freikirchen an die Politik zusammen, soll aber auch die interne Diskussion anfachen und die unterschiedlichen Freikirchen verbinden.

Offensichtlich soll die 44-seitige Broschüre unter dem Titel „Suchet das Wohl des Landes“ Freikirchler zu einem evangelisch motivierten Engagement in Gesellschaft und Staat bewegen – wozu die E-Parteien längst aufrufen. Die Wirkung des Papiers hängt davon ab, was die einzelnen Freikirchen und ihre teils in der Evangelischen Allianz vernetzten örtlichen Gemeinden daraus machen.

Im Laufe von zwei Jahren ist das Papier entstanden. Den Auftrag gegeben hat die Leiterkonferenz des VFG, in welche die 14 Freikirchenverbände meist ihren Leiter abordnen. Wie der VFG-Vorsitzende Max Schläpfer vor den Medien ausführte, leistet der Verband, was die einzelnen Freikirchen nicht machen können. Das Papier wurde vom früheren VFG-Präsidenten Samuel Moser und Vorstandsmitglied Daniel Moser entworfen, dreimal von der Leiterkonferenz diskutiert und mit Nationalräten, die mit dem VFG in Verbindung stehen, ausführlich besprochen.

Für christliche Werte Mehrheiten finden

Die Leiterkonferenz „setzt sich dafür ein, dass Bürger und Politiker christliche Werte proklamieren, ihr Gewissen an Gottes Geboten orientieren und ihr Denken und Leben nach ihnen ausrichten“. In der pluralistischen Demokratie brauchen christliche Werte politische Mehrheiten; damit diese zustande kommen, muss pragmatisch und überzeugend gehandelt werden, wozu die Leiterkonferenz aufruft – ein Signal gegen Sonderzüglein und abseitige Positionsbezüge, die im Volk kein Echo finden.

Die Freikirchenleiter fordern ein wirkungsvolles Handeln des Staates auf auf der Basis christlicher Werte: Was demokratisch beschlossen worden ist, soll auch durchgesetzt werden. Dies gelingt nur, wenn es nicht zuviel kostet; das Papier mahnt mehrfach die Finanzierbarkeit als Kriterium an. Moser: „Wir wollen umsetzbare Gesetze, die wirkungsvoll vollzogen werden.“

Reden, auch wenn (noch) niemand zuhört

Christen sollen sich unbeirrt – auch wenn sie sich als Rufer in der Wüste vorkommen – für eine Politik nach Gottes biblischen Geboten einsetzen (allerdings ohne in extreme Positionen zu verfallen). Auch wenn es unzeitgemäss wirkt: Daniel Moser verwies vor den Medien auf das Rauchverbot, das, vor Jahren undenkbar, nun politisch salonfähig sei. Der VFG legt den Finger namentlich auf Bereiche, in denen grundlegende Rechte verletzt werden; er spricht aber mit der Broschüre alle Bereiche eidgenössischer Politik an, was in der Gliederung seiner „Anliegen“ nach den sieben Departementen der Bundesverwaltung zum Ausdruck kommt.

Die vier Vertreter des VFG betonten am Freitag, dass „das primäre Anliegen der Freikirchen spiritueller Art ist“ und bleibt. Mit den Politikern sehen sich die Freikirchenleiter verpflichtet, die Wertediskussion zu führen. Sie kommen von den spirituellen Bedürfnissen der Menschen her, die Agenda und die Umsetzung wollen sie auch weiterhin den Politikern überlassen.

Theologische Unterschiede

VFG-Präsident Max Schläpfer unterstrich vor den Medien, dass sich der Verband neben der Bischofskonferenz und dem Kirchenbund als „dritte Kraft der christlichen Kirchen in der Schweiz“ versteht. Dabei sind die Unterschiede zwischen den Freikirchen beträchtlich: Sie sind zwischen dem 16. Jahrhundert (Täufer) und 20. Jahrhundert (Pfingst- und charismatische Gemeinden) entstanden und weisen – bei Einigkeit in den zentralen Inhalten des christlichen Glaubens – unterschiedliche theologische Akzente auf. Den Mennoniten, die christliche Gemeinde aufgrund des Vorbilds von Jesus im Kontrast zur „Welt“ und ihren Machtstrukturen sehen, dürfte politisches Mitwirken, wie es das Papier fordert, schwerer fallen als etwa den Methodisten.

Die Gesellschaft braucht Barmherzigkeit

Ines Adler, welche die Heilsarmee in der VFG-Leiterkonferenz vertritt, legte am Freitag das vielfältige unpolitische Wirken der Freikirchen in der Gesellschaft dar: Am Anfang stehe die Verkündigung der göttlichen Botschaft, daraus ergebe sich barmherziges Handeln zum Wohl von Mitmenschen – mit durchaus politischen Konsequenzen: „Jede Sonntagschule, jede Kinderstunde, jeder Ferienklub, der in unseren Gemeinden angeboten wird, kann dazu beitragen, dass ein Knabe oder ein Mädchen sich später einmal auf dem Pausenhof nicht prügelt, sondern als Vermittler auftreten kann. Jedes Kind, das schon früh mit der Botschaft von Jesus Christus vertraut gemacht wurde, kann sich zu einem Friedensstifter entwickeln und besitzt eine solide Grundlage für sein späteres Leben in Familie und Beruf.“

Die freikirchlichen Programme für Frauen, Männer und Senioren beugten der Einsamkeit vor, sagte die Heilsarmee-Oberstin. „Das ganz gewöhnliche Alltagsprogramm der Freikirchen hat schon ein beeindruckendes Potential zu einer positiven Lebenseinstellung.“ Im Weiteren erwähnte Adler, Chefsekretärin im Heilsarmee-Hauptquartier in Bern, die von Diakonissen gegründeten Krankenhäuser, die Heime für Kinder, Frauen und Obdachlose, die in freikirchlichen Kreisen entstandenen Drogentherapiewerke, Ausbildungsstätten und Beratungsstellen. „Die Motivation zu allen diesen Diensten stammt aus der Liebe von Christus zu uns und unserer Liebe zu ihm.“

Staatliche Anerkennung: Versuchsballon in Bern

Die religionspolitische Lage in der Schweiz ist im Umbruch: Der Kirchenbund SEK wünscht einen Religionsartikel in der Bundesverfassung; die Kantone Bern und Zürich haben jüdische Gemeinden öffentlichrechtlich anerkannt, und islamische Gemeinschaften wünschen dies ebenfalls. Vor diesem Hintergrund wird ein Schritt der VFG-Leiterkonferenz, der manchen gewagt erscheinen mag, eher verständlich. Wie Peter Deutsch, VFG-Vizepräsident ausführte, hat die Bedeutung der Freikirchen in einem „zunehmend areligiös geprägten Umfeld“ zugenommen.

2005 hat der VFG im Kanton Bern (dem am stärksten protestantisch geprägten Stand der Eidgenossenschaft) für einen Teil seiner Mitgliedkirchen ein Gesuch für eine gemeinsame öffentlich-rechtliche Anerkennung gestellt. Die Freikirchen wollen kein Geld vom Staat, doch möchten sie für ihren Religionsunterricht staatliche Räume mitbenutzen und die Anerkennung ihrer Seelsorger in den Spitälern und Anstalten erreichen. Die gesellschaftliche Bedeutung freikirchlicher Aktivitäten solle einen Niederschlag finden in der staatlichen Anerkennung, sagte Deutsch.

Webseite: www.freikirchen.ch
VFG-Papier (pdf) zum downloaden: VFG Positionspapier 2006
Dossier zum Freikirchen-Positionspapier
Forum: Was ist Ihre Meinung zum VFG-Positionspapier?

Datum: 31.10.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Kommentar

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