Werden die einheimischen Christen im Irak überleben?
Eine irakische Delegation wies in Brüssel am Beispiel des Schicksals der christlichen Gemeinschaft der Chaldo-Assyrer auf die Probleme der rund 670 000 Christen im Irak nach dem Fall des Regimes von Saddam Hussein hin.
Nach Ansicht des Delegationsmitglieds Eden Naby wird es nur Hoffnung geben, "wenn die internationale Gemeinschaft dafür sorgt, dass ihre Hilfe gerecht und ohne Diskriminierung verteilt wird, wenn Mechanismen zur Überwachung der administrativen und juristischen Schritte der Kurden im Zusammenhang mit der Rückgabe von Land und unrechtmässig konfisziertem Eigentum an die Chaldo-Assyrer eingeführt werden." Damit dies Wirklichkeit wird, benötigen die Chaldo-Assyrer die Unterstützung der Europäischen Union und der internationalen Völkergemeinschaft, sagte Naby.
Assyrer bekennen sich zum Christentum der Syrischen Kirchen
Das Volk der christlichen Assyrer lebt gegenwärtig in den Nahoststaaten Irak, Iran, Syrien, Türkei, Libanon sowie in westlichen Ländern und in Übersee. Die Assyrer sind die Nachfahren der Christen des Vorderen Orients, die seit dem 3. Jahrhundert im Gegensatz zur byzantinischen Reichskirche selbständige Kirchen gründeten und nicht das Griechische, sondern das Syrische als Liturgie- und Theologiesprache verwendeten. Sie selbst führen ihre Existenz auf die altorientalischen Völkerschaften der Assyrer, Babylonier und Aramäer zurück, die seit der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. in Syrien und Mesopotamien ansässig wurden.
Die Assyrer bekennen sich zu zwei selbständigen (autokephalen) syrischen Hauptkirchen: zu der schon im 3. Jahrhundert entstandenen ostsyrische Kirchenfamilie der "Alten Apostolischen Kirche des Ostens" (Nestorianer) und zu der im 5. Jahrhunderts entstandenen westsyrischen Kirchenfamilie der "Kirche von Antiochien und dem Gesamten Osten" (Jakobiten), die als Syrisch-Orthodoxe Kirche bekannt ist. In den folgenden Jahrhunderten spalteten sich die mit dem päpstlichen Rom unierte "Chaldäisch-katholische Kirche" und die ebenfalls mit Rom unierte "Syrisch-katholische Kirche" (auch Syrianische Kirche genannt) sowie die "Assyrisch-Evangelische Kirche" von den beiden ursprünglichen Hauptkirchen ab. Orientalische Kirchen die den Papst in Rom als Kirchenoberhaupt anerkennen bezeichnet man als "mit Rom uniert." So entstanden insgesamt fünf assyrische Konfessionen.
Der unierte Zweig, die Chaldäisch-katholische Kirche, entstand im 16. Jahrhundert, als einflussreiche Bischöfe das System der erblichen Patriarchennachfolge (vom Onkel auf den Neffen) nicht mehr akzeptieren wollten. Die Chaldäisch-katholische Kirche und die "Alte Apostolische Kirche des Ostens" haben in den letzten Jahren einen viel versprechenden Dialog aufgenommen, der bereits zu zahlreichen gemeinsamen pastoralen Projekten geführt hat.
Verfolgung der Assyrer im Irak
Im Irak bilden die Assyrer mit rund 1,5 Millionen Menschen nach den Arabern und Kurden die drittstärkste Bevölkerungsgruppe. Nach dem Machtantritt der Baath-Partei unter Saddam Hussein (1968) begann für sie eine besondere Leidenszeit: Immer wieder wurden grössere Gruppen verhaftet, wurden Menschen hingerichtet. Zahlreiche assyrische Intellektuelle "verschwanden" - über ihr Schicksal herrscht zum Teil bis heute Ungewissheit. Systematisch wurden unter Saddam Hussein etwa 200 assyrische Dörfer von der Armee zerstört. 150 Kirchen und Klöster wurden dem Erdboden gleichgemacht. Viele Assyrer wurden, wie die Kurden, in so genannte "Modelldörfer" deportiert, die Internierungslagern glichen. Schon der erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak forderte etliche Menschenleben in der männlichen assyrischen Bevölkerung. Etwa 40 000 Assyrer wurden Opfer von Genozid. Zu ihnen gehören auch 2 000 assyrische Opfer der Giftgasangriffe, die das Saddam-Regime 1988 gegen Siedlungen und Städte der Kurden und Assyrer im Nordirak (Halabdja) durchführte. Unter den Flüchtlingen aus dem Nordirak, die im Frühjahr 1991 nach dem 2. Golfkrieg in die Nachbarstaaten Türkei und Iran flohen, befanden sich auch Zehntausende Assyrer. Nachdem die Alliierten nördlich des 36. Breitengrades im Nordirak eine Schutzzone eingerichtet hatten, entschloss sich die Mehrzahl dieser Flüchtlinge, in ihre zerstörten Dörfer zurückzukehren. Unter dem Schutz der Alliierten konnte sich Irakisch-Kurdistan zu einem autonomen, selbstverwalteten Föderalstaat entwickeln, in dem Kurden und Assyrer gleichberechtigt zusammenleben könnten. Doch der Konflikt zwischen den beiden grossen Kurdenparteien, die Besetzung assyrischer Dörfer durch Kurden und Anschläge auf assyrische Politiker haben viel von diesen Hoffnungen zunichte gemacht.
Aufgrund des Widerstands der Chaldo-Assyrer gegen das Baath-Regime schloss Bagdad diese ethnische und religiöse Minderheit von der Volkszählung aus. Durch die kontinuierliche Auswanderungsbewegung seit Beginn des 20. Jahrhunderts leben heute in der Diaspora - vor allem in den USA - fast genau so viele chaldäisch-katholische Christen wie in der einstigen Heimat. In einigen nordamerikanischen Städten wie Detroit oder San Diego gibt es ganz chaldäisch geprägte Stadtviertel. In den letzten Jahrzehnten sind neue Diözesen in Nord- und Südamerika, Europa und Australien entstanden.
Mit der neuen Wirklichkeit konfrontiert
Der durch Krieg erzwungene Regierungs- und Machtwechsel in Bagdad hat die Lebensbedingungen der Chaldo-Assyrer bisher kaum verbessert. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wurde zwar ihre Existenz im Übergangsrecht anerkannt, welches im März 2004 verabschiedet wurde. Dieses gleiche Recht stellt jedoch die meisten Dörfer der Chaldo-Assyrer unter kurdische Herrschaft, ungeachtet der historischen Christenverfolgung durch die sunnitischen Kurden und den Unterdrückungen aus jüngerer Zeit in den drei kurdisch-kontrollierten Regionen im Norden des Irak.
Während die Christen in den im Jahr 2003 von den Amerikanern geschaffenen Stadträten von Kirkuk und Mosul vertreten sind, haben sie in den Stadträten der kurdisch kontrollierten Gebiete kein Stimmrecht. Im gleicher Weise hat die kurdische Verwaltung verhindert, dass die zweitgrösste Volksgruppe im Norden des Landes in den Genuss der Vorteile des "Öl für Nahrungsmittel" -Programms, der UN-Wiederaufbauhilfe, der medizinischen Hilfe oder anderer Hilfsmassnahmen gelangt. Die Aussichten auf Besserung bleiben in einer Zeit, in der christliche Amtsträger in grösseren Städten wie Mosul nach wie vor Zielscheiben von Mordanschlägen sind, bescheiden.
„Saddam hat nicht verdient zu leben“
Die einzige christliche Ministerin in der neuen irakischen Regierung fordert die Todesstrafe für den entmachteten Staatschef Saddam Hussein. Pascale Icho Warda, Ministerin für Vertriebene und Flüchtlinge, erklärte laut „La-Croix“ in einem Interview mit der französischen Tageszeitung „Le Parisien“: „Die irakische Regierung hat soeben die Todesstrafe wieder eingeführt. Und ohne dem abschliessenden Spruch der zuständigen Richter vorgreifen zu wollen, bin ich persönlich dafür, dass über Saddam das Todesurteil gefällt wird. Nach allem, was er getan hat, verdient er es nicht, weiter zu leben.“
„Drakonische Massnahmen“
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei es das vorrangige Ziel, den Irak zu einem sicheren Land zu machen, so die Ministerin. Und im Dienste dieser Sicherheit befürwortet sie auch drakonische Massnahmen. „Wenn die Situation sich weiter verschlechtert, dann werden wir das Gesetz mit aller Strenge zur Anwendung bringen, und wir werden uns weitere geeignete Mittel einfallen lassen“, erklärt Ministerin Pascale Icho Warda, die lange Zeit in Frankreich gelebt hat.
Auf der Suche nach gemeinsamen Werten
Für viele Muslime in der arabischen Welt steht fest: Die dunkle Prophezeiung vom "Kampf der Kulturen" hat sich erfüllt. "Der Krieg im Irak ist für sie nichts anderes als ein Krieg des Westens gegen den Islam", sagt der eritreische Philosoph Achmed Dehli. Und der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi meint, nach den Folterfotos aus US-Gefängnissen im Irak gebe es in muslimischen Ländern eine "Kollektivsolidarität mit den Misshandelten".
Gleichzeitig wird in westlichen Ländern der Islam schnell mit den Terroranschlägen verblendeter Eifer in Zusammenhang gebracht. Die Zeichen für einen Brückenschlag zwischen der arabischen Welt und dem christlich geprägten Westen scheinen deshalb schlecht zu stehen - für Wissenschaftler und Vordenker ein Ansporn, nach neuen Wegen zu einer Annäherung zu suchen.
Der Theologe Dieter Emeis schlägt vor, die Religionsgemeinschaften sollten sich auf gemeinsame Ziele verständigen: Vor allem die Globalisierung, die den Menschen zum "reinen Faktor wirtschaftlicher Prozesse degradiert", stelle eine Herausforderung für Anhänger aller Glaubensrichtungen dar. "In einer zunehmend zum technologischen Betrieb verkommenden Welt müssen gemeinsame ethische Normen gesetzt werden“. Zu diesen Werten zähle etwa die Solidarität mit den Armen.
Auf der Suche nach gemeinsamen Normen dürfen nach Auffassung des deutsch-syrischen Islam-Experten Tibi die Unterschiede zwischen den Religionen aber nicht ausgeblendet werden. "Unter Dialog verstehe ich nicht den Austausch von Höflichkeiten." Christliche Kirchen etwa beschränkten sich häufig darauf, harmonische Begegnungen mit Vertretern anderer Religionen zu suchen. Es reiche aber nicht aus, gemeinsame Gottesdienste zu feiern. Unterschiede müssten klar benannt werden, um sich anschliessend auf gemeinsame Werte wie Demokratie und Toleranz einigen zu können, so der Göttinger Politikprofessor.
Der islamische Extremismus ist aber zweifelsohne nicht nur Folge einer US-amerikanischen Politik, die in arabischen Ländern als demütigend angesehen wird. Armut, Überbevölkerung und Analphabetismus in diesen Staaten seien ein idealer Nährboden für Islamisten, sagt Achmed Dehli, Direktor des Eritreischen Instituts für Strategische Studien. Deshalb müssten diese Länder grundlegende politische Reformen auf den Weg bringen - und zwar ohne Bevormundung durch den Westen.
Dehli spricht sich für eine klare Trennung von Religion und Staat in der islamischen Welt aus. Dort müssten ausserdem Mehrparteiensysteme eingeführt und die Gewaltenteilung festgeschrieben werden. Wichtig sei auch die Stärkung der Pressefreiheit und der Frauenrechte. Mit tief greifenden strukturellen Reformen, so Dehli, wären die politischen Rahmenbedingungen für Wohlstand und Frieden geschaffen.
Quellen: APD/Livenet