‚Heile unser Land‘

Welche Versöhnung zwischen Volkskirche und Freikirchen?


Die Konferenz ‚Heile unser Land‘, die die Stiftung Schleife diese Woche, vom 1.-4. Mai 2003, in der Winterthurer Eulachhalle durchführt, will an Grundlagen der Schweizer Kirchenlandschaft rühren: an das Nebeneinander von evangelischen Freikirchen und reformierten Volkskirchen. Die Konferenz zielt auf „Schritte der Versöhnung mit den Wiedertäufern“ ab; solche Schritte sollen nicht nur aufgezeigt, sondern auch gegangen werden in den ersten Mai-Tagen. Reformierte Christen und Nachfahren der Täufer, die seit 1525 in Zürich und europaweit verfolgt wurden, sollen einander begegnen.

Den Anstoss zur Konferenz gab letztes Jahr ein ungeplantes Zusammentreffen einer Reisegruppe des Schleife-Leiters Pfr. Geri Keller mit Amischen im Fernen Westen der USA, im Bundesstaat Montana. Amische sind eine Abspaltung der Mennoniten (Täufer). Keller schreibt in der neusten Ausgabe des ‚Prophetischen Bulletins‘ der Schleife-Stiftung: „Da war ein Amisch-Bischof, dessen Vorfahren aus dem Emmenthal stammten, verheiratet mit Bärbeli und Vater von acht Kindern, dem Gott ein solch brennendes Verlangen nach der Heimat und nach Versöhnung mit den reformierten Vätern in der Schweiz aufs Herz gelegt hatte, dass er unter Tränen über viele Monate zu Gott schrie, er möchte ihm doch solche Leute über den Weg schicken...“

Keller lud diese Amisch-Gruppe (die sich infolge einer charismatischen Erneuerung stark unterscheidet von der Mehrheit der teils extrem traditionalistischen Amischen in den USA) spontan zu einer Versöhnungskonferenz ein – und wurde erst nachher gewahr, dass auch die schweizerischen Täufer und landeskirchliche Verantwortungsträger in einen solchen Prozess einzubeziehen wären. Darum findet sich nun, im April-Bulletin 2003, ein ‚persönliches Wort‘ an die Schweizer Täufer, in dem der charismatische Schleife-Leiter auch eine frühe und „ständig wachsende Liebe und Verehrung“ für sie bekundet.

Sehnsucht nach kompromisslosem Christsein

Keller deutet Vorbehalte bei den Täufern gegenüber seinem Ansinnen an – sie wurden überrumpelt. Gleichwohl habe man nicht erst in einem langen Prozess Voraussetzungen klären wollen. Warum die Eile zur Konferenz? „Weil viele Pfarrerinnen und Pfarrer in den Landeskirchen gemeinsam mit unzähligen Gemeindegliedern, weil nicht zuletzt auch viele Freikirchliche im Land der Hunger treibt!“ Damit meint Keller Hunger „nach einem echten Leben der Nachfolge, nach einer Geist-Gewirkten Radikalität“.

Der reformierte Pfarrer sieht im Täufererbe „ein Verständnis von Nachfolge angelegt, wie Jesus es selber gelebt und seinen Jüngern geboten hat. In Eurem genetischen Code ist das Zeugnis der Wahrheit eingestiftet, jenes JA-JA und NEIN-NEIN, unabhängig von Menschenmeinung und Konsequenzen.“

Viele Christen und kirchliche Leiter seien „müde und ausgelaugt von den vielen Kompromissen und Halbheiten, müde auch von dem ach so vernünftigen kraftlosen JEIN in den Fragen der Ethik, was zu wenig zum Leben und zu wenig zum Sterben ist. Uns scheint, als würde uns in Eurem Erbe ein heller Morgenstern anstrahlen, der uns einen Weg weist aus all den Sackgassen und Tretmühlen unserer bisherigen Glaubenspraxis und Theologie.“

Portrait der ersten Freikirche neu aufgelegt

Der bedeutende Zürcher Kirchenhistoriker Fritz Blanke hat in seiner Schrift mit dem programmatischen Titel „Brüder in Christo“ (1955) die Geschichte der ersten freikirchlichen Gemeinde der Schweiz, der Täufergemeinde von Zollikon, nachgezeichnet und diese Täufer aus der verachteten Ecke der Sektierer herausgeholt.

Für die Neuauflage des 100-seitigen Büchleins im Schleife-Verlag hat der reformierte Zürcher Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich nun das Vorwort geschrieben. Blanke würdige aus profunder Kenntnis der Reformationszeit die offizielle Reformation, schreibt Reich, aber seine Sympathie gelte auch „dem drängenden Konrad Grebel, dem draufgängerischen Jörg Blaurock und dem glaubenssstarken Felix Manz“. Blanke verweist auf die Widersprüchlichkeit der werdenden Täuferbewegung: die hohen Erwartungen der Täufer an die Zürcher Obrigkeit, die, als sie enttäuscht wurden, in Ablehnung umschlugen.

(Buchbestellung Brüder in Christo: www.schleife.ch/verlag/shop_set.htm )

Riss bis in die Gegenwart

Im Skizzieren des tragischen Risses, der sich damals zwischen staatsnaher Kirche und radikaler Erneuerungsbewegung auftat, hält Fritz Blanke aber laut Reich auch das Gemeinsame fest: „die tiefe Verwurzelung im Evangelium, die reformatorische Erkenntnis der Rechtfertigung aus Glauben allein, die Bereitschaft zur Busse und das Vertrauen auf die Gnade Christi“.

Der Zürcher Kirchenratspräsident spricht in der Folge auch die Gegenwart an: „Das Volkskirchliche und das Freikirchliche stehen vor uns als zwei Möglichkeiten evangelischer Existenz. Beide – das Volkskirchliche und das Freikirchliche – haben je ihre Chancen und Gefahren. Das Volkskirchliche will in die Breite wirken, das Evangelium in die Gesellschaft hineintragen, soziale und ökonomische Konsequenzen aufzeigen und durchsetzen... Wer in die Breite wirkt, ist in der Gefahr, zu wenig in die Tiefe zu gehen. Das aber taten die Täufer. Der persönliche Glaube, die Busse und Heiligung, das schlichte Übersetzen des Evangeliums in den Alltag, das wurde hier gelebt.“

Zwei Äste am Baum der Reformation

Pfr. Ruedi Reich verweist darauf, dass die Täufer Jahrhunderte vor der Französischen Revolution die Menschenrechte, in erster Linie die Freiheit des Glaubens und des Gewissens, proklamierten und mit allem dafür einstanden. Blanke verstand die Täuferbewegung im Kern als Erweckungsbewegung.

Reich schreibt, dies sei entscheidend „für den volkskirchlichen und den freikirchlichen Ast der Zürcher Reformation auch heute: Die Hoffnung, dass Christus uns zum Glauben erweckt, Tag für Tag. Ohne ‚Erweckung‘ keine evangelische Kirche.“ Bis heute verdanke die Landeskirche den „erweckten Christen“ viel. Darum drückt Reich Schmerz darüber aus, dass die reformierten Schweizer Kirchen und die internationale Täuferbewegung zwar aus gemeinsamen Wurzeln entstanden – „aber aus Freunden sind Feinde geworden“.

‚Verrat am Evangelium‘

Reich beschönigt nicht: „Das Unrecht, das taufgesinnten Menschen über Jahrhunderte angetan wurde, war ein Verrat am Evangelium, welches wir nur mit tiefem Bedauern und Erschrecken zur Kenntnis nehmen können... Wer anders Denkende und anders Handelnde ausgrenzt und bekämpft, der verrät das Evangelium.“

Reich hatte schon früher, etwa in einem Grusswort bei der 150-Jahr-Feier der Baptistengemeinde Zürich, von der „historischen Schuld der Reformierten Zürcher Kirche“ gesprochen. Der Kirchenratspräsident will am Samstag an einer Feier im Grossmünster teilnehmen.

Und die Schweizer Mennoniten?

Die Konferenz der Schweizer Mennoniten (KMS) hat in einer Stellungnahme auf ihrer Webseite die Versöhnungsbemühungen grundsätzlich begrüsst. Sie verweist auf mehrere solche „Schritte der Versöhnung“ in den letzten Jahrzehnten und meint, „dass in jeder neuen Generation mit der Entdeckung der Täufergeschichte auch das Bedürfnis nach Klärung oder Aussprache neu entsteht“. Einer der Autoren der Erklärung, der Theologe Hanspeter Jecker, sagte gegenüber Livenet, dass unter den Mennoniten die Meinungen über die Winterthurer Konferenz weit auseinander gehen.

In ihrer Stellungnahme begrüssen die Mennoniten das „Ringen um ein glaubwürdigeres Christuszeugnis für die Welt von morgen... Dass heute viele Mitchristinnen und -christen gerade auch aus der Geschichte des Täufertums wesentliche Impulse für die Gegenwart zu gewinnen hoffen, freut uns.“

Grundsätzliche Fragen

Zugleich hält die Stellungnahme der Freikirche grundsätzliche Fragen fest, die nach ihrer Meinung besser vor der Konferenz hätten geklärt werden sollen. Die Mennoniten wünschen vor allem zu bestimmen, was genau „Versöhnung“ angesichts historischer Vorgänge sein soll: „Wer ‚versöhnt‘ sich heute mit wem, in wessen Namen und wofür?“

Die späte Kontaktaufnahme durch die Winterthurer Konferenz-Veranstalter Stiftung hat unter anderem zur Folge, dass von den Schweizer Mennoniten niemand offiziell in den Programmablauf eingebunden ist. „Bei der Planung dieses Kongresses sind die Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) bzw. die Evangelischen Täufergemeinden (ETG) nicht konsultiert oder einbezogen worden.“

Tageweise werden einzelne Vertreter der Mennoniten teilnehmen, „da uns dieses Thema als Denomination wichtig ist und weil wir die Botschaft der Tagung erfahren möchten“. Die Mennoniten hoffen, dass die Konferenz das Miteinander der Christen in der Schweiz fördert. Hanspeter Jecker: „Je stärker das Ringen um ein glaubwürdiges, gemeinsames Christus-Zeugnis im Zentrum steht, umso mehr werden Mennoniten sich engagieren wollen.“

Webseite der Schweizer Mennoniten: www.menno.ch

Webseite der Stiftung Schleife: www.schleife.ch (Anmeldung an der Konferenz als Tagesgast möglich)

Webseite des Mennonite Central Committee: www.mcc.org/

Paul Veraguth, Impulse zur Konferenz: pdf Dokument, 4 Seiten, 66k www.schleife.ch/stiftung/events/seminar_kongresse2003_pop_up/HUL_Veraguth.pdf

Datum: 28.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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