Livenet-Talk in Schaffhausen
Gemeindebau in Extremsituationen
Zuerst Corona, dann Krieg: Wir leben in keiner einfachen Zeit. Auch für die Freikirchen waren die letzten zwei Jahre eine Herausforderung. Ein Gespräch mit Raffael Störchli und Daniel Schenker über den Gemeindebau in Extremsituationen.
Der Livenet-Talk zu «Gemeindebau in extremis» wurde im Rahmen eines Vernetzungs- und Motivationstreffens für die Regiozeitung «Hope Schaffhausen» aufgezeichnet. An Pfingsten erscheint diese Zeitung in der Region Schaffhausen in einer Auflage von 16'000 Exemplaren. Die Evangelische Allianz Schaffhausen unterstützt die Livenet-Regioprojekte im Rahmen des Medienkonzepts mit einem namhaften finanziellen Beitrag, sodass gleich zwei «Hope»-Zeitungen (an Pfingsten und an Weihnachten) realisiert werden können.
Gemeindeleiter waren extrem gefordert
Raffael Störchli war in letzter Zeit nicht nur aufgrund der Pandemie in einer Extremsituation, sondern auch, weil er mit seiner Gemeinde in ein neues Gebäude umsiedelte und einen Namenswechsel vollzog (von «Pfimi» zu «Life Church»). Seit kurzem ist er auch Leiter der Jüngerschaftsschule «Go4it», die aufgrund von Krankheiten personelle Ausfälle zu beklagen hatte.
Daniel Schenker, der zweite Gast auf dem Podium, ist Pastor in der «Chile Grüze» in Winterthur. Er ist aber auch als Konfliktcoach tätig, was aktuell ein brennendes Thema ist. Schenker ist zudem Gastdozent für Führungsverantwortung und Konfliktmanagement am Theologischen Seminar St. Chrischona.
Den
Livenet-Talk mit den beiden können Sie hier in voller Länge als YouTube-Video
anschauen – oder direkt unterhalb des Videos in Textform lesen:
Der Livenet-Talk in Textform
Am 17. Februar feierten die Schweizer Freikirchen das Comeback ihrer
Gottesdienste ohne Massnahmen. Wie habt ihr das erlebt?
Daniel
Schenker: Die
Leute besuchten die Gottesdienste wieder in Person, darüber haben wir uns sehr
gefreut. Somit ist nun wieder mehr Dynamik vorhanden: Man unterhält sich,
trinkt nach dem Gottesdienst gemeinsam Kaffee, tauscht sich aus. Ich habe das
Comeback sehr positiv erlebt und bin froh, dass Gottesdienste nun wieder in
dieser Form möglich sind.
Raffael
Störchli: Durch
die Corona-Umstände mussten auch wir uns an die 2G- bzw. 3G-Regeln halten,
weshalb eine Zeit lang nur gewisse Leute die Gottesdienste weiterhin besuchen
konnten, was wir natürlich sehr bedauert haben. Das Aufteilen in Geimpfte und
Ungeimpfte war schade und mühsam. Als die Bestimmungen für Gottesdienste dann
aufgehoben wurden, hat sich die ganze Situation wieder entspannt, und dafür
sind wir natürlich sehr dankbar.
Man hat
von vielen Pastoren gehört, dass es in dieser Zeit schwierig war, alles zu
arrangieren. Wie ist das euch ergangen?
Schenker: Ja, das war eine grosse Herausforderung.
Immer wieder mussten wir darauf warten, was der Bundesrat sagt. Andererseits
hält uns das auch dynamisch. Wir haben uns gesagt: «Das tut uns Schweizern gut,
wir, die sonst immer schon alles für drei Jahre im Voraus planen und jetzt
einmal spontan Entscheidungen fällen müssen.» Ich finde, das alles hatte auch
einen heilsamen Effekt.
Kann
man schon Spuren erkennen, die die Coronakrise im Gemeindeleben hinterlassen
hat?
Störchli: Als ich auf der Bühne am Predigen
war und in den Saal geschaut habe, nachdem die Massnahmen gefallen sind, ist mir
innerlich aufgegangen, dass Covid es nicht geschafft hat, uns
auseinanderzubringen. Da habe ich tiefe Dankbarkeit und Ehrfurcht empfunden. Klar,
wir müssen all die Dinge, die passiert sind, überhaupt nicht klein reden.
Vieles hat geschmerzt, es gab Meinungsverschiedenheiten und Spannungen, aber gleichzeitig
war es eine Bewährungsprobe, die wir bestanden haben. Das hat mich zutiefst
dankbar gemacht, nicht für unsere Leistung, sondern für Gott, der uns in
solchen Situationen zusammenhält, uns unterstützt und für uns da ist.
Zudem hat Corona auch neue Möglichkeiten eröffnet: Zum Beispiel konnten wir mit einer Wochenzeitung eine Kolumne initiieren, die nun monatlich weiterhin das Evangelium verbreitet. Auch unser Livestream ist dank Corona mittlerweile auf einem top Niveau, und interne Prozesse konnten teilweise viel weniger kompliziert vorangetrieben werden. In der Summe war diese Krise, trotz allem Schmerzlichen, ein Segen.
Daniel,
wie sieht das bei dir aus? Und spürt man in deiner Gemeinde auch die Sehnsucht,
wieder mehr Gemeinschaft miteinander erleben zu können?
Schenker: Auch ich erlebe das Comeback sehr
positiv, aber auch die Möglichkeiten, die Corona eröffnet hat, sehr positiv.
Beispielsweise haben wir Kleingruppen, die sich noch immer per Zoom oder Teams
treffen. Leute, die noch kleine Kinder zu Hause haben, können nicht jedes Mal
vor Ort an der Kleingruppe teilnehmen, durch diese digitale Form wurde ihnen das
aber ermöglicht. Hätte vor zwei Jahren jemand vorgeschlagen, sich über Skype
oder eine ähnliche Plattform zu treffen, hätte man ihn ausgelacht. Nun finden
alle diese Form des digitalen Zusammenkommens super.
Gleichzeitig ist aber schon auch wieder diese Sehnsucht nach dem Miteinander zu spüren. Wir haben nach der Massnahmenaufhebung in unserer Kirche Treffen eingeführt, wo sich die Leute in kleinen Gruppen viermal pro Monat darüber austauschen können, wie Jesus in ihrem Leben und Alltag wirkt. Die Rückmeldungen davon waren bisher sehr positiv, teilweise auch berührend. Nach diesen zwei Jahren, in denen zwischenzeitlich kaum Kontakt zu anderen Menschen möglich war, ist Gemeinschaft wieder etwas sehr Wichtiges und kann viel Positives auslösen.
Raffael,
ihr habt gerade auch in dieser Corona-Krise viele Projekte in euerer Kirche
umgesetzt. War das eine intensive Zeit?
Störchli: Ja, es war eine interessante,
aber auch eine sehr intensive Zeit. Ich habe gerade letztens dem Team gesagt:
«Wenn wir in ein paar Jahren auf diese Zeit zurückschauen, dann
werden wir uns fragen: 'Was haben wir da eigentlich alles geschafft?'» Unsere
Gemeinde war vor zwei Jahren noch an drei Standorten positioniert, nun haben
wir alle zu einem Standort zusammengeführt. Dabei musste auch die gesamte
Gemeinde mit auf diese Reise genommen werden. Dafür braucht es Empathie, und man
muss auf Menschen eingehen können. All diese Prozesse – wie beispielsweise von
einer kleinen Kapelle in ein grosses Industriehaus zu wechseln oder den Namen
unserer Kirche zu ändern – machten etwas mit den Menschen. Dass man dabei
niemanden verliert und sich alle ernst genommen fühlen, waren grosse Aufgaben,
die man zu meistern hatte.
Ich habe aber immer auch gespürt, dass Gott hier mit dabei war. Es war schön, so etwas erleben zu dürfen, aber es ist auch gut, dass sich so grosse Umgestaltungsprojekte nicht alle drei Jahre wieder wiederholen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in unserer Kirche ein Team haben, wo jeder weiss, was unsere Vision ist. Unser Team ist eins; wäre das nicht so, könnte man solche Projekte überhaupt nicht in die Tat umsetzen. Alles, was wir erreicht haben, ist deshalb nicht nur auf eine Einzelperson zurückzuführen, sondern als Teamleistung anzusehen. So ein Team ist ein Geschenk.
Daniel,
du wirst manchmal als Gastdozent in der Chrischona für Seminare über
Führungsverantwortung und Konfliktmanagement eingesetzt. Was beinhaltet deine Schulung
dort?
Schenker: Es geht besonders darum zu
vermitteln, was Leitung überhaupt bedeutet. Insbesondere die jüngere Generation
soll dabei motiviert werden, sich mehr einzubringen und Leitungspositionen in
der Gemeinde einzunehmen. Dafür ist beispielsweise auch das kürzlich erschienene Buch von Thomas Härry relevant, wo aufgezeigt wird, dass Macht unter
anderem auch Gefahren in sich trägt. Eine der wichtigsten, aber genauso
schwierigsten Aufgaben in meinen Seminaren ist es, gemeinsam mit anderen wieder
ein gesundes Verhältnis zur Macht- und Führungsverantwortung zu erarbeiten.
Führungsqualitäten kann man dabei nicht vom Charakter der jeweiligen
Leitungsperson trennen, diese beiden Dinge gehen Hand in Hand. Wenn man seine
eigene Geschichte und Persönlichkeit nicht reflektiert, dann holt einem das
irgendwann ein.
Mit dem
Krieg in der Ukraine befindet sich unsere Gesellschaft bereits in einer
weiteren Krisensituation. Wie erfahrt ihr den Umgang von Christen mit solchen
Herausforderungen?
Schenker: Nach zwei Jahren Corona-Krise war
eine Ohnmacht zu spüren. Nun kann man es kaum erwarten, endlich wieder etwas zu
unternehmen. Diesen Aktivismus finde ich nicht nur gut. Ich glaube, es ist
wichtig – auch als Kirche – auf Jesus zu hören und zu fragen, was in seinen
Augen überhaupt zu tun ist. Von dieser Ohnmacht hin zur totalen Aktivität
braucht es meiner Meinung nach eine Mitte.
Störchli: Wir hatten gar keine Zeit, die
Corona-Krise richtig zu verarbeiten. Kaum hat sich diese Situation etwas
beruhigt, kam auch schon der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Solche
Gegebenheiten sollte man nie einfach schönreden, trotzdem dürfen wir uns gerade
in so schweren Zeiten auch von Gott führen und ermutigen lassen. Vor Kurzem
hatte ich eine Begegnung mit jemandem, und wir waren nicht in allem einer
Meinung. Etwas später habe ich die Person erneut getroffen, sie hat mich in den
Arm genommen und gesagt: «Komm, wir gehen einfach weiter.» Für mich war das ein
bewegender Ausdruck. Selbst bei Auseinandersetzungen und Konflikten sollten wir
als Christen gemeinsam weitergehen, denn Jesus eint uns.
Was
sind Schritte, die Christen in näherer Zukunft noch gehen sollten?
Schenker: Ich glaube, die Chance dieser
Situation, dass nach Corona gleich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine
gestartet hat, besteht darin, dass viele Menschen sich nun fragen: «Was ist
wirklich wichtig?» So wurden die Prioritäten wieder einmal geordnet, und
Kirchen hatten die Chance, ihren Fokus neu auszurichten. Dies sollte allerdings
nicht willkürlich, sondern weise, aber durchaus auch mit Humor geschehen.
Beobachtet
ihr bei Christen in eurem Umfeld einen neuen Hunger?
Schenker: Ja, auf zwei Ebenen: Einerseits
tauscht man sich bei uns in der Gemeinde in persönlichen Gesprächen, die nun
wieder vermehrt stattfinden können, intensiv darüber aus, was Jesus eigentlich alles
bewirkt und was unser Fundament und Boden ist. Andererseits spüre ich auch in
Gesprächen mit Aussenstehenden, dass eine neue Offenheit da ist. In dieser
Krisenzeit wurden viele Menschen mit dem Tod oder existenziellen Problemen
konfrontiert, und aus dieser Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit entstehen
Fragen nach dem Sinn des Lebens.
Störchli: Ich glaube, dieser Hunger war
schon immer da. In seinem innersten Kern sehnt sich das menschliche Wesen nach
dem Schöpfer. Die Gefahr besteht eher darin, wie man nach Gott fragt.
Die Frage sollte nicht lauten: «Gott, was tust du für mich? Wann
erweckst du mich und schenkst mir mehr Hunger nach dir?», sondern: «Gott, was
sollen wir für dich tun? Wie können wir auf andere Menschen zugehen? Wozu
forderst du uns heraus?» Wir als Christen sollten bereit dazu sein, nach neuen
Wegen zu suchen und Neues zu wagen.
Schenker: Auch wir als Leitungspersonen sind dazu
herausgefordert, andere Menschen mit auf diesen Weg zu nehmen und gemeinsam
zuversichtlich weiterzugehen.
Zum Thema:
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Autor: Selina Messmer / Florian Wüthrich
Quelle: Livenet