In der Lebenskrise
«Gott ist nicht immer der liebevolle Daddy»
Wenn man als Christ eine tiefe Krise durchlebt, verändert das oft die Sicht auf Gott. Der Psychologe und Psychotherapeut Samuel Pfeifer erklärt, warum der Glaube helfen kann, in einer Krise durchzuhalten, und wie man Gottvertrauen neu erlernt.
Welche Arten von Ereignissen können eine psychische Krise auslösen?
Samuel
Pfeifer: Es gibt verschiedene Arten von Auslösern. Es gibt da die
Erlebnisse, die ganz natürlich zum Leben gehören, etwa das
Erwachsenwerden. Die Turbulenzen können nicht selten zur Krise werden.
Aber auch unerwartete Dinge wie der Tod eines lieben Menschen oder der
Verlust der Arbeitsstelle können Auslöser für eine Krise sein.
Wesentlich ist: Wenn mir etwas lieb und wertvoll ist und ich das
verliere oder dieses in Gefahr ist, dann gerät ein Mensch zunehmend in
eine seelische Einengung, die sich schliesslich zu einer vollen Krise
entwickeln kann.
Welche Ereignisse können zu Krisen führen?
Da
sind einmal die sogenannten Entwicklungs- oder Reifungskrisen. Da
gehört nicht nur das Erwachsenwerden dazu, sondern auch das Eintreten in
eine Partnerschaft, die Heirat oder ein Baby. All dies erfordert eine
enorme Anpassung. Plötzlich merkt man: Ich kann nicht mehr so leben wie
früher. Bei anderen ist es der Übergang vom Studium ins Berufsleben.
Erwartbare Lebensereignisse können krisenartig verarbeitet werden.
Dann gibt es die Krisen, die sich durch unerwartete, hoch belastende Ereignisse ergeben. Der Verlust eines lieben Menschen, eine lebensbedrohliche Erkrankung oder eine Naturkatastrophe können zu einer schweren Krise führen: Man stellt plötzlich alles in Frage, was mal war. Extrem belastend sind auch Traumatisierungen, wie etwa ein Überfall, eine Vergewaltigung oder ein schwerer Unfall.
Welche Phasen macht man durch, wenn man so ein Erlebnis verarbeitet?
Die
erste ist die Phase, in der man denkt: «Das kann ja nicht wahr sein!
Das ist mir passiert?!» Das ist die Phase des Nicht-wahr-haben-wollens.
Man ist wie versteinert, innerlich leer, empfindungslos, in einer Art
Schock-Reaktion. Das geht bis hin zum Leugnen, dass das Ereignis
überhaupt passiert ist. Allmählich brechen dann die Gefühle durch. Das
ist die zweite Phase der aufbrechenden, chaotischen Emotionen: Schmerz,
Wut, Zorn, Angst vor Leben und Tod, Schuldgefühle. Oder auch die Frage:
«Warum ist das mir passiert?» Die Suche nach dem Schuldigen. In der
dritten Phase setzt man sich mit dem auseinander, was eigentlich
geschehen ist. Also das Loslassen dessen, was man nicht ändern kann.
Versuchen, etwas Neues zu finden, ein neues Gleichgewicht. Schliesslich
ist die vierte Phase die des Neubeginns, des neuen Bezugs zu sich und
zur Welt um einen herum.
Erleben gläubige Menschen eine Krise anders als diejenigen, die nicht glauben?
Auch
der gläubige Mensch ist ein Geschöpf mit all seinen Hoffnungen,
Erwartungen und seiner Verletzlichkeit. In dem Sinne dürfen wir nicht
erwarten, dass man die Krisen durch den Glauben einfach wegsteckt. Aber
ich bin immer wieder Menschen begegnet, die aus dem Glauben gerade in
der Krise enorme Kraft geschöpft haben; denen der Glaube wirklich
geholfen hat, besser mit der Situation umzugehen, widerstandsfähiger zu
sein. Dadurch ist die Trauer auch besser zu bewältigen.
Wie kann so eine Situation die Sicht auf Gott verändern?
Manchmal
müssen wir lernen, dass Gott nicht immer nur der liebevolle Daddy ist,
auf dessen Schoss ich mich kuscheln kann und bei dem es mir gut geht. Es
gibt auch diesen unverständlichen Gott, zu dem selbst Jesus in seiner
allergrössten Krise gerufen hat: «Mein Gott, mein Gott! Warum hast du
mich verlassen?» Eine Krise kann das Gottesbild radikal in Frage
stellen. Nicht selten muss ein gläubiger Mensch nachher auch seine
Beziehung zu Gott neu aufbauen lernen.
Wie geht man damit um, wenn Gott einem nicht das gibt oder nicht so hilft, wie man selbst denkt, es dringend zu brauchen?
Krisen
führen oft zur Veränderung des Gottesbildes. Die Person muss
akzeptieren: Ich möchte zwar Gott vertrauen und ich rufe zu ihm. Und
allein, dass ich zu ihm rufen kann, hat irgendwo eine tröstliche Seite.
Aber er erlegt mir auch auf, dass ich Schweres erleben muss; dass ich
durch Schwachheit und Verlust gehen muss. Er trägt mich durch, auch im
dunklen Tal. «Wenn ich auch gar nichts fühle von deiner Macht, du
bringst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht», heisst es in einem
bekannten christlichen Lied. Da entsteht eine neue vertiefte
Gottesbeziehung, die nicht immer sofort Gottes Nähe erfährt und dennoch
Trost spürt.
Wie kann man Gott in der Notlage erleben?
Menschen,
die durch Krisen gegangen sind, sagen mir: «Ich kann trotzdem beten. Da
ist einer, der mich hört und mit dem ich reden kann. Ich bin nicht
völlig allein!» Sie halten fest an göttlichen Verheissungen, auch wenn
diese nicht sofort eintreten. Und da sind andere Menschen, die mit ihnen
tragen und für sie beten. Hilfreich als Bewältigungsstrategie ist auch
das Hören von christlicher Musik, christlichen Liedern, die einem Gottes
Trost auf der emotionalen Ebene zusprechen.
Kann eine Krise auch positiv sein?
Ganz
sicher. Eine Krise macht uns tiefer. Sie zeigt uns, dass der Glaube
hält, auch in der Not. Nicht nur in den guten Zeiten. Das scheint mir
etwas ganz Wesentliches zu sein. Wissenschaftlich spricht man hier von
«post-traumatischem Wachstum».
Wie kann man bei Glaubenszweifeln wieder neu Vertrauen in Gott lernen?
Manchmal
muss man es erst schrittweise wieder aufbauen. Das ist ein
schmerzlicher Prozess. Nicht selten gelangt man an den Punkt, an dem
schon Jesus seine Jünger fragte: «Wollt ihr auch weggehen, weil ihr
enttäuscht seid von mir?» Und dann sagt Petrus: «Herr, wohin sollen wir
gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.» Ich habe es selbst erlebt, dass
ich mir sagte: «Du hast Worte des ewigen Lebens», und weiter: «Okay,
Herr, dann will ich dein Wort lesen und es neu wieder ernstnehmen und
lernen, was es für mich bedeuten kann, auch jetzt in dieser schwierigen
Phase.»
Was kann man selbst versuchen, um aus einer Krise wieder rauszukommen?
Aus
den Ereignissen des 11. September 2001 hat man einiges gelernt: Es war
für viele Menschen eine existenzielle Krise, ein Trauma, dass ihr Land
angegriffen wurde. Wo haben sie Hilfe gesucht? Viele haben den Ort des
Grauens verlassen, um sich an einen sicheren Ort zurückzuziehen, häufig
zu ihren Familien, ihren Liebsten. Dort konnten sie reden, sich erholen,
einfach Zeit nehmen für die Verarbeitung der schrecklichen Bilder. Das
empfehle ich auch: Sich Zeit nehmen, in der man still wird, wo man sich
wohlfühlen kann, zum Beispiel mit christlicher Musik. Oder wo man sich
selbst positive Verheissungen zuspricht. Und vergessen Sie nicht ein
gutes Essen und einen Ort, wo es Ihnen einfach wohl ist.
Wann ist es ratsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Wenn
eine Person merkt, dass sie nicht mehr in der Lage ist, zu schlafen,
sich dem Leben zu stellen, zur Arbeit zu gehen, oder wenn sie wegen
jeder Kleinigkeit in Tränen ausbricht, dann scheint es mir wichtig,
professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. In den Städten gibt es meist
Krisenzentren, bei denen man in eine Notfallsprechstunde gehen kann.
Von dort wird man dann zu einem Therapeuten weiterverwiesen, der einen
über längere Zeit begleitet.
Zur Person
Der Schweizer Samuel Pfeifer, Jahrgang 1952, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Professor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben und hält Vorträge, in denen er sich mit dem Zusammenspiel von Medizin, Psychologie und christlichem Glauben beschäftigt.
Zum Thema:
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Autor: Swanhild Zacharias
Quelle: PRO Medienmagazin | www.pro-medienmagazin.de