Ein Talmud-Tipp
«Kol Nidre» – Ohne Loslassen gibt es keine Versöhnung
Einfach so vergeben ist gar nicht einfach. Selbst mit dem festen Vorsatz fällt es den meisten Menschen sehr schwer, unabhängig davon, ob sie anderen oder sich selbst vergeben sollen. Und zur Versöhnung gehören auch noch zwei… Im Judentum gibt es einen Brauch, der dabei helfen kann: Gläubige Juden sprechen dazu am Abend vor dem grossen Versöhnungstag das «Kol Nidre», ein Loslass-Gebet.Der Versöhnungstag (Jom Kippur) ist der höchste israelische Feiertag. Für 24 Stunden dreht sich hier alles um Vergebung, Versöhnung und einen Neuanfang mit Gott. Basis ist die alttestamentliche Anweisung: «Und das soll eine ewig gültige Ordnung für euch sein: Am zehnten Tag des siebten Monats sollt ihr eure Seelen demütigen und kein Werk tun, weder der Einheimische noch der Fremdling, der in eurer Mitte wohnt. Denn an diesem Tag wird für euch Sühnung erwirkt, um euch zu reinigen; von allen euren Sünden sollt ihr gereinigt werden vor dem Herrn» (3. Mose, Kapitel 16, Verse 29-30).
Das Kol-Nidre-Gebet
Das «Auftaktgebet» am Vorabend des Versöhnungstages heisst «Kol Nidre» (alle Gelübde). Nachdem der Vorbeter der Gemeinde die Erlaubnis gegeben hat, auch mit Sündern zu beten, wird es dreimal gebetet bzw. vom Kantor gesungen. Folgendes wird da gebetet: «Alle Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Umschreibungen und alles, was dem gleicht, Strafen und Schwüre, die wir geloben, schwören, als Bann auszusprechen, uns als Verbot auferlegen von diesem Jom Kippur an bis zum erlösenden nächsten Jom Kippur. Alle bereue ich, alle sein ausgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und vernichtet, ohne Rechtskraft und ohne Bestand. Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Schwüre keine Schwüre» (zitiert nach talmud.de).
Seine Bedeutung
Im Kol Nidre werden also alle Gelübde und Versprechen, die man im vergangenen Jahr gegeben hat, für nichtig erklärt. Eigentlich waren solche gegebenen Worte im Judentum unauflöslich (4. Mose, Kapitel 30, Vers 3). Aber höchstwahrscheinlich wurde dieses Gebet als Rückkehrmöglichkeit im frühen Mittelalter eingeführt, als vielerorts Juden gezwungen wurden, ihrem Glauben abzuschwören. So eröffnete sich für sie die Möglichkeit, wieder zu Gott umzukehren.
Kritiker des Kol-Nidre-Gebets sehen es als willkommene Möglichkeit, sich aus Verpflichtungen und Verträgen anderen Menschen gegenüber quasi herauszubeten. Doch das war nie sein Ziel. Es bezieht sich konkret auf Versprechen, die man Gott gegeben hat.
Schritte zur Versöhnung
Die Psychologin Delia Schreiber nennt Kol Nidre eine Erinnerung für uns Menschen, «dass wir jederzeit frei sind, diejenigen zu werden, die wir eigentlich sind». Dies weist auf einen wichtigen Zusatzaspekt von Gebeten hin. Natürlich ist das Reden mit Gott in erster Linie das Reden mit Gott. Doch ganz nebenbei verändert solch ein Gespräch auch unser eigenes Denken. Und genau hier scheint der tiefere Sinn des Kol Nidre zu liegen: Gott vergibt. Und er versöhnt seine Kinder mit sich. Dazu musste er noch nie überredet werden. Das Problem liegt auf der anderen Seite – bei uns Menschen. Und für viele ist es einfach hilfreich, wenn wir uns bewusst machen, dass unsere Sachzwänge, unsere nicht eingehaltenen Versprechen und unsere zementierten Überzeugungen der Begegnung mit Gott nicht mehr im Weg stehen.
Man könnte nun zu dem Schluss kommen, dass Kol Nidre ein «unsinniger Brauch» ist. Amram Gaon behauptete dies. Trotzdem nahm der jüdische Gelehrte des 9. Jahrhunderts das Gebet in seine berühmte Sammlung von Gebeten und Ritualen auf. Wahrscheinlich, weil das Kol Nidre doch nicht so unsinnig ist, denn es bereitet Menschen darauf vor, Ja zu sagen zur Vergebung Gottes, indem sie ihre alten Lasten und scheinbaren Verpflichtungen loslassen. Und solch eine Vorbereitung erscheint nicht nur für Juden sinnvoll.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / talmud.de / feinschwarz.net / juedische-allgemeine.de