Unter den Teppich gekehrt

Der Missbrauchsskandal der US-Baptisten

Zoom
«Es ist keine Krise, es ist ein Weltuntergang», schrieb ein US-Journalist über die Untersuchungsergebnisse bei den Südlichen Baptisten in den USA. Mehr als 700 Pastoren werden des Missbrauchs beschuldigt – und der Bund schaute jahrzehntelang zu.

Die «Southern Baptist Convention» (SBC – Vereinigung der Südlichen Baptisten) ist mit 14 Millionen Mitgliedern die grösste protestantische Kirche der USA. Sie gilt weit über das Land hinaus als geistlicher Massstab, als konservatives Bollwerk gegen Liberalismus und als moralische Institution. Diese Einschätzung wackelt jetzt gehörig. Denn nachdem Missbrauchsvorwürfe nicht abrissen, beauftragte die Kirchenleitung einen unabhängigen Untersuchungsausschuss.

Das Ergebnis liegt seit Sonntag vor. Der 288-seitige Bericht beschuldigt aufgrund einer kircheninternen Liste 703 Pastoren des sexuellen Missbrauchs. Darüber hinaus sollen Pastoren und Kirchenleitung Missbrauchsopfer jahrelang eingeschüchtert und diffamiert haben.

Einem Journalisten fehlen die Worte

Russell Moore leitet den Bereich «Öffentliche Theologie» beim US-Nachrichtenmagazin «Christianity Today». Ernüchtert stellt er in seinem Artikel fest, dass «die Schlussfolgerungen des Berichts so umfangreich sind, dass sie sich fast nicht zusammenfassen lassen». Er ist entsetzt, als er feststellt, dass eine Datenbank, in der Missbrauchsfälle kirchenintern dokumentiert werden können, zwar offiziell abgelehnt, aber intern geführt wurde. Letztlich wurde sie allerdings nicht geführt, um Opfer zu schützen oder Täter zur Rechenschaft zu ziehen, sondern um Täter und Kirche vor Vorwürfen zu schützen, «während sie denjenigen sagten, die für Reformen kämpften, dass solche Verbrechen unter 'Leuten wie uns' kaum vorkommen würden». Russell hält fest, dass dabei «zwei ausserordentlich kraftvolle Bekenntnisse der Südlichen Baptisten gegen sie verwendet wurden: Bibeltreue und missionarische Zusammenarbeit».

Als persönliche Schlussfolgerung beschreibt Moore seine persönliche Situation: «Als meine Frau und ich die letzte Sitzung des SBC-Exekutivkomitees verliessen, an der wir jemals teilnehmen würden, sah sie mich an und sagte: 'Ich liebe dich und bleibe bei dir bis zum Ende. Tu, was du willst. Aber wenn du bis zum Sommer noch ein Süd-Baptist bist, wirst du in einer interreligiösen Ehe leben.'»

Eine Kirche mauert

Die beschriebenen Missbrauchsvorwürfe reichen bis ins Jahr 2000 zurück – was nicht bedeutet, dass inzwischen irgendetwas zu ihrer Aufklärung unternommen wurde. «Wir wussten, dass da etwas kommt», sagte Ed Litton nur, der scheidende Vorsitzende der Denomination, laut New York Times, «aber es ist immer noch herausfordernd, überraschend und schockierend, sich der Realität stellen zu müssen.»

August Boto, ein einflussreicher Leiter, ging noch weiter. Er sieht die Missbrauchsvorwürfe als «satanisches Komplott, um uns völlig von der Evangelisation abzuhalten» (New York Times).

Boz Tchividjian, ein Anwalt, der sich auf die Vertretung von Missbrauchsopfern im religiösen Umfeld spezialisiert hat, kommt zu einem völlig anderen Schluss: «Dieser Bericht ist entsetzlich. Die Zahl der Leben, die von denen negativ beeinflusst wurden, die behaupten, Jesus zu folgen, ist fast unbegreiflich», sagte er. «Vielleicht ist es an der Zeit, dass der SBC nicht mehr existiert.»

Einsicht muss folgen

Seit zwei Tagen liegen zumindest die Vorwürfe auf dem Tisch – und jetzt muss einer der grossen westlichen Kirchenverbände damit umgehen. Die Frage, ob es nicht auch andere gibt, die Fehler gemacht haben, spielt keine Rolle. Genauso wenig wie der Verweis auf all das, was im Laufe der Jahre Gutes getan wurde. Dies als Entschuldigung anzuführen, wäre ein Schlag ins Gesicht der Opfer.

Gleichzeitig greift es zu kurz, eine Denomination – die sich aus europäischer Sicht weit weg befindet – schuldig zu sprechen. Es ist höchste Zeit, dass Kirche nicht länger feststellt: «In Sportvereinen werden aber auch Menschen missbraucht…» Es ist Zeit, Schuld einzugestehen und Konsequenzen zu ziehen. Russell Moore betont dies folgendermassen: «Dies ist mehr als eine Krise. Es ist sogar mehr als nur ein Verbrechen. Es ist Gotteslästerung. Und jeder, dem der Himmel am Herzen liegt, sollte darüber verdammt wütend sein.»

Zum Thema:
Kay Warren spricht Klartext: Heilung von sexuellem Missbrauch in der Kirche
Sexueller Missbrauch: «Gemeinden sollten das Thema aufgreifen»
Ravi Zacharias, Bill Hybels & Co: Warum wir über Missbrauchsfälle berichten

Datum: 25.05.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

Kommentar schreiben

Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich neu, um diesen Artikel zu kommentieren.
Anmelden
Mit Facebook anmelden

Kommentar

Regula Lehmann: Empörung ist billig
Wir befinden uns inmitten der Fastenzeit vor Ostern. Livenet-Kolumnistin Regula Lehmann fastet...

Adressen

CGS ECS ICS