Journalist Arnd Henze
«Gott interessiert sich für dich»
In einer Dokumentation rekonstruiert Journalist Arnd Henze das Geschehen in einem Wolfsburger Pflegeheim: Dort starben 47 von 160 Bewohnern an Corona. Henze sieht Defizite im Handeln der Kirche und erklärt, was er unter Seelsorge versteht.
Wie erging es Ihnen, als Sie die Dokumentation «Ich weiss nicht mal, wie er starb» drehten?
Arnd
Henze: Es war berührend zu sehen, wie traumatisiert alle noch Monate
nach der Katastrophe waren. Fast alle haben in unseren Interviews zum
ersten Mal über die bitteren Wochen erzählen können. Da fehlte es
offensichtlich vorher an Angeboten. Die emotionale Wucht dieser
Dokumentation ergibt sich daraus, dass wir eben nicht nur die Fakten
abgefragt haben, sondern dass sich die Menschen öffnen konnten. Die
Erfahrungen derer, die aussen vor den Mauern des Heimes standen und ihre
Angehörigen nicht besuchen konnten, und die der Pflegekräfte, die oft
selbst infiziert waren und bis ans Äusserste ihrer Kräfte gingen, passten
aber oft nicht zusammen. Dieses Personal hat die Menschen im Sterben
begleitet, ohne dass die Angehörigen in der Nähe sein konnten. Das
mussten wir abends nach Drehschluss erst einmal sacken lassen.
Ihre Darstellung der ja sehr netten Pflegekräfte und die
Darstellung etwa in der Bild-Zeitung vom «Horror-Heim» gehen sehr
auseinander.
Es gab damals nicht nur eine physische, sondern
auch eine kommunikative Quarantäne. Dieses Vakuum füllt sich dann nicht
mit realen Erfahrungen, sondern mit Gerüchten und Vermutungen. Viele
Vorwürfe in den Medien beruhten auf Aussagen von verzweifelten
Angehörigen, die gar nicht wirklich wussten, was drinnen los ist. Das
haben Journalisten dann trotzdem begierig aufgenommen und ungeprüft
gedruckt. Es war für die Pflegekräfte extrem verletzend, so etwas gerade
von den Angehörigen jener Menschen zu hören, um die sie sich intensiv
kümmerten. Was wir in Wolfsburg erlebt haben, war auch ein grosses
Versagen von Seelsorge – man hat Angehörige und Pflegekräfte in dieser
seelischen Notlage allein gelassen. Dabei ist es doch eine Kernaufgabe
von Kirche, wenn Menschen sterben, den Toten einen Namen und der Trauer
Raum zu geben! Wenn wir das Sterben verschweigen, machen wir Trauer
unmöglich. Ich denke, in der Dokumentation kommt gut rüber, wie gross die
Sehnsucht nach solchen Räumen war.
Sie sind selbst engagiert in der Kirche, die Sie nun kritisieren.
Ich
denke, dass auch die Kirchen in der Pandemie einen Lernprozess
durchgemacht haben. Die Fokussierung auf digitale oder analoge
Gottesdienste in der ersten Phase war nachvollziehbar, aber im
öffentlichen Auftreten ist dabei die Balance zwischen Seelsorge und
Verkündigung verloren gegangen. Die muss auch in der vierten und fünften
Welle immer wieder neu gesucht werden.
Wie kann denn so eine Seelsorge aussehen, etwa wenn man gar keinen Kontakt zu Bewohnern der Pflegeheime haben konnte?
Es
geht ja eben nicht nur um die Bewohner. Mich hat sehr beeindruckt, wie
nach der Hochwasser-Katastrophe im Sommer Teams von Notfallseelsorgern
in ihren violetten Westen mit Bollerwagen voll Teekannen zu den Menschen
in ihren zerstörten Häusern gezogen sind. Diese niedrigschwellige
Seelsorge ist auch öffentlich sehr wahrgenommen worden – und die bei
Corona viel diskutierte Frage nach der Relevanz von Kirche hat sich bei
der Flut gar nicht erst gestellt. Diese Bollerwagen mit Tee und
Zigaretten hätte es vielleicht auch vor manchen Pflegeheimen zum
Schichtwechsel gebraucht.
Was bedeutet Ihnen der Glaube?
Mir fällt es
schwer, so etwas auf Bekenntnisformeln zu bringen. Wenn man sagt: Ich
habe einen Glauben, klingt das fast nach Besitz. Aber ich besitze keinen
Glauben. Ich spüre in meinem Alltag, dass ich die Grundzusage, behütet
und getragen zu sein, gerade auch in Situationen erfahre, wo meine
eigene Kraft nicht ausreicht oder wo ich eine grosse Dankbarkeit
empfinde.
Aber Glaube ist ja doch die Überzeugung von irgendetwas.
Für
mich ist es ein Vertrauen darauf, dass jeder Mensch getragen ist von
diesem liebenden Gott, der uns auch in unserer gesellschaftlichen
Realität nicht uns selbst und unserer Überforderung überlässt. Das finde
ich sehr tröstend in Zeiten wie dieser.
Sie haben ein Buch geschrieben, «Kann Kirche Demokratie?». Wieso stellte sich Ihnen diese Frage?
Diese
Frage muss sich jede Organisation stellen in einer Phase, in der die
Demokratie eben nicht mehr die historisch unangefochtene
Gesellschaftsform ist, sondern von innen wie von aussen massiven
Angriffen und Herausforderungen unterliegt. Jede Organisation muss sich
fragen, wo ihre Ressourcen liegen, um dieser gefährdeten Demokratie gut
zu tun. Das habe ich exemplarisch am Beispiel Kirche durchdekliniert.
Das müssen andere Organisationen auch machen.
Der Buchtitel lautet ja nicht «Konnte Kirche Demokratie», sondern «kann». Sie schlagen also eine Brücke in unsere heutige Zeit?
Ja,
wir müssen uns einerseits unseres toxischen Erbes bewusst werden,
andererseits müssen wir aufmerksam sein gegenüber jenen, die eine
180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik konstruieren. Das ist eine
Hauptstossrichtung von rechtsextremen Kreisen wie der AfD. Die haben 2019
ganz offen ein perfides Narrativ in die Welt gesetzt. In einer
Kampfschrift behauptet die AfD eine doppelte Kontinuität: Einerseits
zieht sie eine direkte Linie von den «Deutschen Christen» in der NS-Zeit
über die DDR-Kirchen in der SED-Diktatur bis hin zur angeblichen
Obrigkeitshörigkeit der EKD gegenüber der «Merkel-Diktatur». Parallel
dazu wird dann eine Kontinuität gezogen von der Bekennenden Kirche in
der NS-Zeit über diejenigen, die in der SED-Diktatur Widerstand
geleistet haben bis hin zu denen, die sich gegen die «Merkel-Diktatur» wehren. Die EKD hielt das damals für so absurd, dass sie hoffte, das
würde sich von selbst erledigen. Heute sehen wir auf
Querdenker-Demonstrationen, wie man sich überall auf Dietrich
Bonhoeffer, Sophie Scholl und die friedliche Revolution von 1989
bezieht. Diesem fürchterlichen geschichtsverfälschenden Narrativ hätte
man mit einem selbstkritischen Wissen um die eigene Geschichte viel
früher widersprechen müssen. Heute hat sich diese Geschichtsklitterung
in der Querdenker-Szene fast schon gewohnheitsmässig verfestigt. Das
zieht sich bis in Kirchengemeinden rein, da darf man sich nichts
vormachen.
Was sollte die Kirche Ihrer Meinung nach konkret tun?
Die
Kirche sollte nicht denken, sie sei wegen des Glaubens per se immun
gegen Antidemokratisches. Sie hat es ein stückweit geschafft, sich zu
immunisieren, aber es braucht ein ständiges Boostern gegen diese
menschenfeindlichen Kräfte. Unsere Gesellschaft wird immer pluraler
werden. Die Kirche muss sich fragen, wie sie sich in Zukunft entwickeln
will. Sind wir als kleiner werdende Gemeinden ein Lernort in dieser
vielfältigen Gesellschaft, oder verengen wir uns durch unsere
demografische Zusammensetzung – bildungsbürgerlich, milieuverengt – zu
einem Rückzugsraum gegen den gesellschaftlichen Wandel – einem Ort, wo
sich die zu Hause fühlen, die sagen: «Hier sind wir noch richtig
deutsch, hier haben wir unseren Luther, unseren Bach und unsere alten
Lieder, und hier sind wir alle noch blond und blauäugig.» Es gibt in der
Kirche beides: Das Bewusstsein dafür, dass wir die Fenster weit
aufmachen müssen, und gleichzeitig gibt es bei manchen die Sehnsucht,
mit dem Rückzug auf ein vermeintliches Kerngeschäft ein Bollwerk gegen
den Wandel zu werden.
Was unterscheidet die Kirche dann von einer politischen oder
Bürgerinitiative? Öffnet die Kirche mit dem Glauben denn nicht eine
Perspektive, die andere Organisationen oder Parteien nicht haben? Das
Vertraute daran sind doch gerade Luther und Bach?
Verstehen
Sie mich nicht falsch, ich bin ein grosser Bach-Freund. Und natürlich
sind mir die alten Kirchenlieder lieb. Das gehört für mich dazu, davon
will ich nichts wegnehmen. Aber zu sagen, wir ziehen uns darauf zurück,
das darf nicht sein. Bei den Menschen sein, damit meine ich die
Seelsorge, das Zuhören. Kirche wird heute vor allem bei einschneidenden
Veränderungen im Leben wie Taufe, Schulanfang, Trauung oder Beerdigung
wahrgenommen. Darauf sind wir mit unseren Angeboten eingestellt. Aber es
ist doch auch ein tiefer Einschnitt, wenn Geschäfte in der Pandemie
nach 70 Jahren und einer vier Generationen umfassenden Geschichte
schliessen müssen, wenn die beliebte Kneipe im Stadtteil dicht macht oder
wenn Künstler ihre Karriere aufgeben mussten. Für die Betroffenen sind
das sehr persönliche Krisen, aber auch gesellschaftliche Folgen von
Corona, für die wir auch als Kirche eine Sprache finden müssen.
Was genau hat das noch mit Gott zu tun? Warum sollte ich mich
ausgerechnet an die Kirche wenden, wenn ich einen Raum suche und
Menschen, die mit mir reden?
Weil die Botschaft der Kirche
ist: Gott interessiert sich für dich. Ich erinnere an den Satz der
Pflegekraft in der Dokumentation: «Wenn Sie wüssten, was hier los ist.» Das ist der Seufzer der Gesellschaft, wenn so viele Gespräche wegen der
Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden können. Wir sind als Menschen
darauf angewiesen, dass wir miteinander reden. Dieses Wissenwollen in
den Horizont der Liebe Gottes zu stellen: Das ist für mich das
Kerngeschäft der Kirche.
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Autor: Jörn Schumacher
Quelle: PRO Medienmagazin