Unruhe in US-Kirchen
Die «Trumpisierung des Evangelikalismus» überwinden
Die Politisierung hat den amerikanischen Evangelikalismus in eine Krise geführt. Viele haben den Glauben verloren. Nun zeigen sich Wege zu einer Erneuerung. Aber es ist ein schmerzhafter Prozess.
Die evangelikalen Kirchen und Werke in den USA durchlaufen eine schwierige Phase. Davon zeugt ein Artikel von David Brooks, seit 2003 Kolumnist bei der New York Times. Er erzählt seine persönliche Betroffenheit: «Denken Sie an Ihre zwölf engsten Freunde. Das sind die Menschen, mit denen Sie Urlaub machen, mit denen Sie über Ihre Probleme sprechen, mit denen Sie das Leben auf die intimste und sinnvollste Weise verbringen. Stellen Sie sich nun vor, sechs dieser Menschen würden plötzlich eine politische oder öffentliche Position einnehmen, die Sie ganz und gar abscheulich finden. Und nun stellen Sie sich vor, Sie würden erfahren, dass diese sechs Menschen Ihre Position für absolut abscheulich halten. Sie würden plötzlich feststellen, dass die Menschen, die Sie am besten zu kennen glaubten und die Ihnen am meisten am Herzen lagen, in Wirklichkeit die ganze Zeit über völlig fremd waren. Sie würden sich verwirrt, verstört und orientierungslos fühlen. Ihr Leben würde sich verändern.»
Die Ursachen der Irritation
Und David Brooks fährt fort: «So erging es in den letzten sechs Jahren Millionen von amerikanischen Christen, vor allem Evangelikalen. Es gab drei grosse Themen, die sie zutiefst gespalten haben: die Umarmung von Donald Trump durch die weissen Evangelikalen, die Skandale um sexuellen Missbrauch in evangelikalen Kirchen und parakirchlichen Organisationen und die Einstellung zu den Beziehungen zwischen den Rassen, insbesondere nach der Ermordung von George Floyd.»
20-jährige Freundschaften verloren
Brooks zitiert dazu Thabiti Anyabwile, Pastor der mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Anacostia River Church in Washington, D.C.: «Es war bisweilen quälend und verwirrend», sagt er. «Meine gesamte Beziehungslandschaft hat sich neu geordnet. Ich habe 20-jährige Freundschaften verloren. In Beziehungen, die einst eng waren und von denen ich dachte, dass sie ein Leben lang halten würden, ist eine grosse Distanz entstanden. Ich habe getrauert.»
Nicht allein die Politisierung
Nicht nur die Politisierung rund um die Wahl von Präsident Trump hat die US-Evangelikalen durchgeschüttelt, sondern auch schwierige Vorkommnisse in den eigenen Kirchen. Russell Moore trat vor Jahresfrist von seiner Führungsposition in der Southern Baptist Convention zurück, weil sich die Konfession weigerte, die Skandale um Rassismus und sexuellen Missbrauch in ihren Reihen aufzuarbeiten. Brooks berichtet über eine Begegnung mit Moore: «Er erzählte mir, dass er jeden Tag Gespräche mit Christen führt, die aufgrund dessen, was sie in ihren Kirchen sehen, ihren Glauben verlieren.» Auf einer Konferenz habe er kürzlich darüber gesprochen und bemerkt: «Wir erleben jetzt, dass junge Evangelikale dem Evangelikalismus den Rücken kehren, nicht weil sie nicht glauben, was die Kirche lehrt, sondern weil sie glauben, dass die Kirche selbst nicht glaubt, was die Kirche lehrt.»
Die Verkörperung vieler Wunden
Die unmittelbare Ursache für all diese Unruhe ist laut Brooks Donald Trump. Aber das sei nicht die tiefste Ursache, so Brooks der schonungslos feststellt: «Trump ist lediglich die Verkörperung vieler Wunden, die in Teilen der weissen evangelikalen Welt bereits vorhanden waren: Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Anbetung von Berühmtheiten, Ressentiments und die Bereitschaft, Prinzipien für Macht zu opfern.»
Ein politisches Etikett
Und er fährt fort: «Hinzu kommt, dass das, was eigentlich eine religiöse Bewegung sein sollte, von der Parteipolitik überschwemmt wurde. In den letzten Jahrzehnten mussten evangelikale Pastoren feststellen, dass ihre 20-minütigen Sonntagspredigten die stundenlangen Fox News, die ihre Gemeindemitglieder jede Woche sehen, nicht in den Schatten stellen konnten.» Laut einer Studie des Politikwissenschaftlers Ryan Burge hätten im Jahr 2020 etwa 40 Prozent der Menschen, die sich selbst als evangelikal bezeichneten, einmal im Jahr oder seltener die Kirche besucht. Für sie sei es nur noch ein politisches Etikett. Daran seien zahllose Kirchen und christliche Werke zerbrochen. Und die Atmosphäre sei angespannt und bitter geworden.
Die Zukunftshoffnung
Doch es gibt jetzt auch Hoffnung. Die institutionelle Fäulnis sei dadurch aufgedeckt worden, so David Brooks. Viele alte Beziehungen seien zwar zerbrochen. Jedoch – «auch wenn es noch zu früh ist, um sicher zu sein – Vorboten eines möglichen Wandels». Denn inmitten des Sturms bildeten sich allmählich neue Koalitionen unter vielen verschiedenen Prägungen von Christen: Unter denen, denen die Augen geöffnet wurden, die alte Überzeugungen überdenken, die sich treffen und mobilisieren in der Hoffnung, die evangelikale Präsenz in Amerika zu erneuern.» Und er zitiert dazu nochmals Pastor Thabiti Anyabwile: «Als jemand, der drei Jahre lang mit Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu kämpfen hatte, haben die letzten Jahre die Hoffnung neu entfacht.»
Anzeichen einer Erneuerung
David Brooks teilt diese Hoffnung: «Es werden Anzeichen einer christlichen Erneuerung sichtbar. Als ich jung war, hatte ich eine seltsame Vorliebe für Menschen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts den Kommunismus angenommen und dann mit ihm gebrochen haben … Für viele dieser Menschen war der Bruch mit dem Kommunismus brutal; sie wurden geächtet und verurteilt. Aber sie wurden auch befreit. Sie begannen, neue Dinge zu denken, neue Verbündete zu finden und sich manchmal für neue Ziele einzusetzen. Einige von ihnen trugen zu einem Sammelband bei, der ihre Erfahrungen unter dem Titel 'The God That Failed' beschreibt.»
Nicht Gott hat versagt …
Und er sieht eine Parallele: «Ich habe viele evangelikale Christen beobachtet, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Sie haben sich von der Gemeinschaft getrennt, von der sie dachten, dass sie ihr Leben lang mit ihr verbunden sind. Nur war es für sie nicht Gott, der versagt hat, sondern die menschlichen Institutionen, die in seinem Namen errichtet wurden. Diese Erfahrung des Zerbrechens, des Umdenkens und der Neuausrichtung eines Lebens könnte die erste Stufe der Erneuerung sein.»
Trennung von parteipolitischer Macht fällig
Er zitiert dazu zahlreiche Beispiele und Persönlichkeiten, die diese Sicht stützen. Aber eines ist ihm dabei besonders wichtig: «Es kann wahrscheinlich keine evangelikale Erneuerung geben, wenn sich die Bewegung nicht von der Gier nach parteipolitischer Macht trennt. Im Laufe von mehr als einem Jahrhundert haben die Katholiken eine Soziallehre entwickelt, die ihnen hilft zu verstehen, wie die Kirche im bürgerlichen Leben aktiv sein kann, ohne von der Parteipolitik korrumpiert zu werden. Die Protestanten verfügen nicht über eine solche Lehre. Diejenigen, die an der Spitze der evangelikalen Erneuerung stehen, wissen, dass sie eine solche brauchen.»
Eine Antwort für Suchende
David Moore schliesst mit dem Fazit «Das Zeitalter des autonomen Individuums, das Zeitalter des narzisstischen Ichs, das Zeitalter des Konsums und der moralischen Verirrung hat uns Bitterkeit und Spaltung, eine wachsende Krise der psychischen Gesundheit und Menschen, die einfach nur böse zueinander sind, hinterlassen.» Doch jetzt sei Neuland in Sicht: «Millionen von Menschen sind auf der Suche nach etwas anderem, nach einem Glaubenssystem, das gemeinschaftlich ist und dem Leben einen transzendenten Sinn gibt. Das Christentum ist eine mögliche Antwort auf diese Suche, und darin liegt seine Hoffnung und die grosse Möglichkeit, seinen Ruf zu erneuern.»Zum Thema:
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / New York Times