Dank Neustart
Von einer sterbenden Gemeinde zur florierenden «seetal chile»
Im Jahr 2006 wurde die Chrischona-Gemeinde in Seon von ihrer Leitung als «sterbende Gemeinde» beschrieben. Nach einer Reflexions- und Entscheidungsphase hat sie wieder auf Feld 1 begonnen und den Neustart in die Gemeindezukunft geschafft.
Daran erinnert sich Pastor Matthias Altwegg noch gut: 2006 kam die damalige Gemeindeleitung mit dem externen Coach Wilf Gasser zum Schluss, dass die Chrischona-Gemeinde Seon, deren Anfänge bis 1888 zurückreichen, eine «sterbende Gemeinde» sei. Sie war in den Jahren nach der Jahrtausendwende in eine Krise geraten, die auch Mitgliederabgänge zur Folge hatte. Doch die mutige und ehrliche Selbstanalyse war der Schlüssel zum Neuanfang. Dazu kam, dass die Gemeinde realisierte, dass sie nicht besonders attraktiv für die Jugendlichen im Aargauer Seetal war. Damals hatte die Gemeinde aber noch ungefähr 90 erwachsene Gottesdienstbesucher. Es hätte noch etliche Jahre bis zum letzten Atemzug gedauert.Vom Zeitpunkt der Analyse bis zum konkreten Neustart im Sommer 2007 blieb etwa ein Jahr Zeit, um die Uhren auf null zurückzustellen. Unter der Begleitung des Regionalleiters und eines externen Begleiters wurde alles geändert: Personal und Gemeindeleitung wurden ausgewechselt, ein neues Leitbild und neue Konzepte für die Gottesdienste und die Information erstellt, die Kirchenbänke gegen schöne Stühle ausgetauscht, der Gottesdienstraum sanft modernisiert, die letzte noch verbliebene Aussenstation geschlossen, ein Corporate Design erstellt. Und schliesslich ein neuer Name für die Gemeinde gefunden. Ein Prozess, der ein beträchtliches Risikopotenzial in sich barg. Denn für den Hauptpastor galt es, Abschied zu nehmen, und dem Vorstand in corpore wurde der Rücktritt zugemutet. «Die Kurve, die die Gemeinde nehmen musste, war so eng, dass wir die Möglichkeit miteinbezogen, dass der Zug entgleist», sagt Matthias Altwegg im Rückblick.
Die Vision – eine neue Kultur schaffen
Der neue Name war ein wichtiger Meilenstein und half den Leuten zu verstehen, dass tatsächlich etwas Neues angefangen hatte. Zudem ist der neue Name in der Kommunikation nach aussen besser verständlich. «Unser Aufbruch in den letzten Jahren hängt auch mit dem neuen Namen zusammen. Allerdings bewirkt ein neuer Name nur wenig, wenn sich nicht gleichzeitig auch die Kultur ändert», war sich Altwegg bewusst.
Zum Gelingen beigetragen hat zum einen der Regionalleiter, der voll dahinter stand und mutige Entscheidungen traf. Ausserdem wurde vor Ort ein «Change-Manager» eingesetzt, der «sein Fett abbekam», nachher aber wieder abtreten durfte. Als neuer verantwortlicher Pastor war Altwegg beim Relaunch-Prozess Teil des Teams. Er hatte in seiner Funktion als zweiter Pastor auch die Jugendarbeit JMS (Jesus Moves Seetal) aufgebaut und 2007 über eine Veränderung seines Dienstes nachgedacht. Dass er die Verhältnisse in der Gemeinde kannte, war entscheidend für seine Berufung in die neue Gemeindeleitung. «Ich konnte meine Ideen von Anfang an einbringen und wusste schon, wer die zu gewinnenden Schlüsselpersonen sind», verrät Altwegg. «Mit diesen suchte ich früh den persönlichen Kontakt.» Er bilanziert: «Das viele Neue kam von Anfang an qualitativ ansprechend daher.» Trotz dieser stützenden Faktoren blieb der Gemeinde die schmerzliche Erfahrung nicht erspart, dass einige sie verliessen.
Die Strategie – Niederschwellig Gemeindeerfahrung ermöglichen
Heute wird die Gemeinde von neuen Gemeindebesuchern mit folgenden Worten beschrieben: Freundlichkeit, Freiheit, Offenheit, Transparenz und Innovation. Auf diesem Boden gedeiht die Gemeinde. Viele neue Leute kommen hinzu. Heute stossen auch Menschen, die nicht kirchlich aufgewachsen sind, auf natürliche und leichte Art zur Gemeinde, fühlen sich wohl und nehmen verbindlich am Gemeindeleben teil. So bekommen sie Raum, um Gott kennenzulernen und entscheiden sich dann früher oder später für ein Leben mit Jesus Christus. Das entspricht dem Gemeindemotto «belong – believe – behave».
Dazu trägt auch ein neues Gemeindezentrum bei, dessen Bau nach mehrjähriger Planungsarbeit 2013 startete und das 2014 eröffnet werden konnte. Die seetal chile hat heute mit durchschnittlich 280 Gottesdienstbesuchern etwa doppelt so viele wie 2007. «Das ist ein riesiges Geschenk – so wie das neue Gemeindezentrum», freut sich der Pastor. «Wir glauben, dass Gott in Seon und Umgebung auch mit uns sein Reich baut. Das begeistert.»
Die Offenheit der Gemeinde begegnet dem Besucher schon im Eingang: Man habe bewusst keine Wand zwischen Foyer, Café und Gemeindesaal eingebaut, erklärt Matthias Altwegg. So kann der Gottesdienst auch im Café miterlebt werden.
Offenheit zeigt die Gemeinde auch gegenüber sozial bedürftigen Menschen. Sie initiierte dazu den Verein «Lichtblick» und stellt eine fachlich qualifizierte freiwillige Mitarbeiterin zur Verfügung, die zwei Halbtage pro Woche für Gespräche und Beratung in vielfältigen Notlagen zur Verfügung steht, seien es finanzielle Nöte, Arbeitslosigkeit und Stellensuche, aber auch Hilfe beim Umzug von älteren Menschen. Auch Suchtprobleme sind ein Thema. Dazu bieten Gemeindeglieder auch praktische Hilfe an, wo solche benötigt wird. Das bedeutet, dass die Mittelstandsgemeinde auch von Menschen aus dem unteren sozialen Milieu aufgesucht wird. Für eine Arbeit für Flüchtlinge gab es laut Altwegg bislang noch keinen Ansatzpunkt.
Die nächsten Ziele – neuer Gottesdienst und Leadership
Ganz neu bietet die Gemeinde an einem Sonntagabend im Monat einen 19 Uhr-Gottesdienst an, bei dem es «eine Spur kreativer, lauter und freier hergeht». Die seetal chile bietet 2017 auch einen Leadership-Workshop an, der während eines Jahres Grundlagen und Fertigkeiten für Leitungsfunktionen vermittelt. Das starke Wachstum fordere die Gemeinde heraus, sich nicht nur in die Begleitung neuer Besucher zu investieren, sondern auch in die Leiterschaft. Altwegg: «Wir wollen den Grundwasserspiegel der Leiterschaft in der Gemeinde heben.»
Das Fazit – Keine Angst vor Veränderungen
«Wir wollen als ganze Gemeinde innerlich und äusserlich aufbrechen und unseren biblischen Auftrag für alle Generationen in Seon wahrnehmen», war laut Matthias Altwegg das Aufbruchsmotto der Gemeinde. Der Pastor hat auch über seine Rolle beim Neubeginn reflektiert: Der Pastor darf weder der Spielball der Gemeindeleitung sein, noch der kleine Diktator, der die Gemeindeleitung zu einem «Nickgremium» degradiert. Diese Zusammenarbeit, aber auch die Person und die Begabung des Pastors seien zentral für einen Relaunch. Neben der wachstumsorientierten Grundhaltung, der Selbst- und Fremdführung, gelte die Kernkompetenz des Pastors als wegweisender Faktor für den Erfolg. Predigen sei eine harte Arbeit und das Resultat mitentscheidend, ob Menschen in einer Gemeinde bleiben oder nicht.
Dass der Neustart, ein echter Relaunch, gelungen ist, bezeichnet Altwegg als Wunder. Ein Wunder, an dem aber auch über einige Jahre hinweg gearbeitet werden musste – und immer noch wird. Daniele Tortoni, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gemeinde, schreibt in einer Arbeit am TDS Aarau: «Eine Kultur zu prägen geschieht nicht in einem halben Jahr, es muss geackert, gepflügt und gearbeitet werden. Nach fünf Jahren hatte die seetal chile eine Willkommenskultur entwickelt. Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten fühlen sich willkommen und angenommen.»
Relaunch bedeutet, so Tartoni, auch Wachstum. Dieses kann nicht produziert werden; Pastoren und Gemeindeleitungen können ihm aber im Wege stehen. Entscheidend ist dabei die Erwartungshaltung. Laut Matthias Altwegg ist es wie beim Schuhe-Kaufen für ein Kleinkind. Man kauft Schuhe, die etwas zu gross sind, damit die Kinder hineinwachsen können. Genauso muss die Gemeinde ein bisschen zu grosse «Schuhe» tragen, damit sie weiter wachsen kann.
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet