Weniger reformierte Taufen
Wie gibt die Landeskirche den Glauben weiter?
Nach dem letzten Jahresbericht des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, der die Zahlen der 26 Mitgliedkirchen versammelt, wurden 2003 noch 16’428 Personen getauft, vier Prozent weniger als im Vorjahr. Unter den Getauften sind sind 181 Erwachsene, 48 allein im Kanton Genf. Der Rückgang ist keine Ausnahme, sondern alarmierende Normalität: 1998 wurden noch über 20'500 Kinder getauft; innert fünf Jahren hat die Zahl der Taufen um nicht weniger als 21,5 Prozent abgenommen!
Darin spiegelt sich zum einen der Rückgang der reformierten Bevölkerung. Der Schweizer Protestantismus ist seit 1970 von knapp drei Millionen auf 2,4 Millionen Glieder geschrumpft; der protestantische Bevölkerungsanteil sank in 30 Jahren um 13 Prozentpunkte (von 46 auf 33). Weniger als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung gehört heute einer reformierten Landeskirche an.
Geburtenrate – tiefer als in freikirchlichen Familien
Doch die Taufen fallen viermal stärker ab als die Bevölkerung. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Erstens haben die Frauen, die der reformierten Kirche angehören, wenige Kinder (durchschnittlich 1,35).
Diese tiefe Geburtenrate liegt nicht nur unter dem Schweizer Durchschnitt von 1,43, sondern markant unter jener der Frauen in evangelischen Freikirchen und Gemeinschaften (alle zwischen 1,9 und 2,04!). Katholikinnen haben nach der Volkszählung 2000 im Durchschnitt 1,41 Kinder; Musliminnen 2,44 und Hindu-Frauen 2,79 Kinder.
Emanzipation
Protestantinnen widmen sich mehr als andere Frauen ihrer beruflichen Laufbahn, streben die Eigenständigkeit an und leben oft ohne Trauschein mit einem Partner zusammen (11,8 Prozent). Dass die evangelische Frauenarbeit seit Jahrzehnten von feministisch-emanzipatorischen Visionen dominiert wird, muss dabei in Rechnung gestellt werden.
Während der Prozentsatz der Katholikinnen mit 10,2 Prozent ähnlich hoch ist, leben nur etwa 2 Prozent der Freikirchler im Konkubinat.
Mischehen
Die Zahl der reformierten Trauungen ist von 7’458 im Jahr 1998 auf 5'817 im Jahr 2003 zurückgegangen (-22 Prozent). Ein gutes Drittel ist konfessionell gemischt. Viele kleine reformierte Landeskirchen weisen bei den Trauungen mehr Mischehen als evangelische Ehen aus; hier werden vermutlich manche Kinder nicht reformiert getauft.
Weiter verzichten heute manche Eltern auf eine Taufe in der Kirche. Pfr. Frieder Furler, in der Zürcher Landeskirche für die Religionspädagogik zuständig, führt dies unter anderem darauf zurück, dass gesellschaftliche Trends wie Individualisierung und Zuwachs an Mobilität die Bindung von Familien an Institutionen wie die Kirche lockern und vielgestaltiger machen. „Sahen es Eltern früher als Pflicht an, ihre Säuglinge zur Taufe zu bringen, so kann heute das Umgekehrte geschehen: Primarschulkinder beanspruchen im Zusammenahng mit dem Drittklass-Unterricht ihren Eltern gegenüber das Recht, auch wie andere Kinder getauft zu werden.“ Furler ist überzeugt: Wo die Kirche akive Familienarbeit betreibt und für die Säuglingstaufe durch eine sorgfältige Gottesdienstgestaltung wirbt, stösst sie bei Müttern und Vätern auf grosses Interesse.
Säuglingstaufe als Pfeiler der kirchlichen Pädagogik
Darum baut die Zürcher Landeskirche in ihrem 2004 verabschiedeten Gesamtkonzept für die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation wesentlich auf die Taufe: Für die Vorschulzeit schlägt sie als möglichen Akzent eine tauforientierte Familienarbeit vor. In der dritten Klasse, wo der bis zur Konfirmation führende Unterricht bisher einsetzt, „entdecken Kinder in den Zeichen von Taufe und Abendmahl, was sie Gott verdanken. Er sagt Ja zu ihnen als eigenständigen Personen (Taufe), und er gibt ihnen die guten Gaben der Schöpfung zum Leben und zum Teilen (Abendmahl).“
Sich später taufen lassen
Allerdings nehmen auch die Zürcher Religionspädagogen auf die Vielfalt in der Multioptionsgesellschaft Rücksicht – eine Vielfalt, welche die Reformierten mit ihrer Betonung der individuellen Freiheit auch in Glaubensfragen noch verstärken.
Ökumenisch nicht lupenrein (die katholischen und orthodoxen Kirchen setzen Taufe für alles Erleben in der Kirche voraus) heisst es im Gesamtkonzept: „Die Taufe der Kleinkinder ist eine Chance in dieser Aufbauarbeit, aber keine Bedingung. Heranwachsende lassen sich auch im Drittklass-Unterricht, im Konfirmationsjahr oder als Erwachsene taufen.“
Reformierte Freiheit ist…
Diese liberale Taufpraxis ist eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte: Nach der Reformation galt für viele Generationen Taufzwang – der Pfarrer hatte für die Obrigkeit das Taufregister zu führen und, wo es sie gab, die Täufer zu bekämpfen.
Noch im 20. Jahrhundert mussten Eltern, die ihr Neugeborenes nicht zur Taufe brachten, vielerorts schiefe Blicke gewärtigen. Heute hat das Pegel weit in die andere Richtung ausgeschlagen. Manche Eltern sind nicht in der Landeskirche verwurzelt. Die Identität der reformierten Kirche verschwimmt.
…wenn jeder tun und lassen kann, was er will
Dies bestätigte kürzlich der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich in seinem Vortrag nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Er sagte am 3. Mai in der Universität der Limmatstadt, von reformierter Identität sei zwar häufig die Rede. „Aber kaum jemand kann überzeugend sagen, was damit nur schon strukturell, geschweige denn inhaltlich gemeint ist. Und so besteht der Verdacht, das Ganze könnte sich darin erschöpfen, dass jeder tun und lassen kann, was er will, und dass man ihn auch dazu keinesfalls verpflichten kann.“
Welche Verpflichtung gehen die Eltern ein?
Mit der Taufpraxis allein lassen sich diese Probleme nicht lösen. Und doch wird für die Zukunft der reformierten Landeskirchen viel davon abhängen, ob die reformierten Pfarrerinnen und Pfarrer die Taufe von Kindern künftig verbindlicher gestalten können.
Das „Ja Gottes“ im Taufgottesdienst zu verkünden, genügt nicht, so bedeutsam die Zusage von Gottes Liebe und Fürsorge ist. Das Ja der Menschen zu Gott und seinen Weisungen fürs Leben gehört nach reformierter Tradition untrennbar dazu.
Bedürfnis nach religiöser Lebensgestaltung
Wenn die Kirche nach dem knappen, förmlichen Ja, das sie den Eltern in der Kirche abfordert (Verpflichtung zu christlicher Erziehung), ihnen keine konkreten Hilfen, Angebote und Herausforderungen bietet, werden andere Einflüsse bei der Mehrzahl der Kinder das Evangelium in den Hintergrund drängen und sie prägen.
Das muss nicht sein. Denn die Kirche könnte, wie Dr. h.c. Ruedi Reich in seinem Vortrag sagte, anknüpfen „an ein weit herum spürbares Bedürfnis nach religiöser Lebensgestaltung und spiritueller Sinnfindung“.
Das Ja Gottes – in der Taufe „ergreifend einfach sichtbar“
Frieder Furler ist zuversichtlich. „Wer auf den Wind achtet, kommt nicht zum Säen", zitiert er aus dem biblischen Predigerbuch. „Es kommt darauf an, dass die Kirche Gottes Ja zu den Menschen, welches in der Taufe in ergreifender Einfachheit sichtbar wird, wieder stärker akzentuiert, feierlich begeht und auch in einer familienfreundlichen Werktagskirche lebt.“
Heute sei die Taufe nicht mehr Symbol einer vereinnahmenden Kirche. „Sie ist ein symbolträchtiges Ritual für Eltern auf der Suche nach einem Lebenssinn.“ Und ausnahmsweise kann sich Furler sogar auf die Statistik stützen: Entgegen dem langjährigen Trend haben sich 2004 im Kanton Zürich 40 Kinder mehr als im Vorjahr reformiert taufen lassen.
Religionslandschaft in der Schweiz, mit den Zahlen der Volkszählung 2000
Jahresbericht 2004 des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK (PDF)
Vortrag des Zürcher Kirchenratspräsidenten Pfr. Dr. h.c. Ruedi Reich (PDF)
Religionspädagogisches Gesamtkonzept der Zürcher reformierten Landeskirche
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch