Zukunft der Schweizer Kirchen

„Wir brauchen eine reformierte Kirchengemeinschaft, grösser als unser Land“

Er hat in den letzten Jahren wie kein anderer für Diskussionen in den reformierten Kirchen gesorgt: Gottfried Locher, bis Juni verantwortlich für die Aussenbeziehungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds. Livenet sprach mit dem Vizepräsidenten des Reformierten Weltbunds über die Ökumene und die Zukunft der Schweizer Kirchen.

Livenet: Gottfried Locher, als Vertreter der Reformierten sind Sie dem neuen Papst Benedikt XVI. bei seiner Amtseinsetzung begegnet. Was bringt es uns, dass er den Protestantismus kennt?
Gottfried Locher: Der neue Papst kennt die Reformation, und zwar aus eigenem Erleben. Auch Bayern hat den Protestantismus mitabbekommen. Der letzte Papst kam aus einem Land, in dem der Protestantismus prozentual keine Rolle spielte. Benedikt XVI. hat mehrfach Luther zitiert, durchaus in positivem Sinn. Er kennt die theologischen Grundlinien, mit denen ein protestantischer Theologe sich definiert. Ich glaube, das nützt uns sehr…

…weil Protestanten auf einen kompetenten Gesprächspartner zählen können?
Es kann der Kirche als ganzer nützen. Wenn wir davon ausgehen, dass im Protestantismus Wahrheit liegt und in der Art, wie wir theologische Schwerpunkte setzen, Wichtiges für die ganze Kirche und die Ökumene gesagt ist, dann ist es wichtig für die ganze Kirche und für die Ökumene, die reformatorischen Einsichten mitzubedenken.

Offensichtlich ist allerdings eine andere Entwicklung: Rom und die orthodoxen Kirchen senden Signale der Gesprächsbereitschaft aus. Der Vatikan blickt nach Osten.
Zwischen der Orthodoxie und der römischen Kurie ist ein Tauwetter spürbar. Es ist eindeutig: Ökumene meint für den jetzigen Papst in erster Linie die Beziehungen zwischen den beiden Schwesterkirchen. Schwesterkirchen sind die alten Ost- und Westkirchen; das haben beide Seiten mehrfach bestätigt. Zwar gibt es seit bald 1000 Jahren Zeiten der Annäherung zwischen Ost und West. Aber die Zeichen für den Willen, aufeinander zuzugehen, häufen sich jetzt.

Wir sollten nicht vergessen, dass trotz den grossen Spannungen zwischen Orthodoxen und den Katholiken eigentlich immer klar war, dass sie zusammengehören, dass die Patriarchate (grosse Kirchengebiete der alten Kirche) auch Rom umfassen und dass die Streitigkeiten nur um den Anspruch auf den Primat (Vorrang Roms) gingen – weniger um die theologische Grundlegung. Von ihr her gehört man zusammen. Kurz: Wir sollten der Tatsache ins Auge sehen, dass zwischen Rom und den Orthodoxen in den Kernfragen eine viel innigere Nähe besteht als zwischen Katholizismus und Protestantismus.

Im Blick auf das Zusammenwachsen Europas nach 1989 ist es zu begrüssen, dass katholische und orthodoxe Kirchen einander nicht mehr feindlich distanziert gegenüber stehen.
Wir begrüssen alles, was in Europa Frieden stiftet und Versöhnung fördert. Eine transparente, nüchterne, demokratische Verfassung, wie wir sie im Protestantismus kennen und glaubwürdig vorleben, gehört auch dazu.

Sie haben knapp sechs Jahre lang die Verantwortung für die Aussenbeziehungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK wahrgenommen. Was sehen Sie als die Höhepunkte?
Weniger ein Erlebnis als einen Prozess: Ich freue mich festzustellen, dass der schweizerische Protestantismus heute stärker willens geworden ist, ein verbindlicher Kirchenpartner zu sein. Wir haben hart daran gearbeitet, die kirchlichen Beziehungen im Auftrag der SEK-Mitgliedkirchen zu stärken, uns auch zu profilieren und zu positionieren, so dass wir in wichtigen kirchlichen Organisationen tatsächlich mitarbeiten können, nicht nur einfach mitlaufen. Dass diese Arbeit geschätzt und gewürdigt wurde, ist für mich eine schöne Erinnerung. Die reformierte Schweiz hat eine Botschaft und eine Stimme – auch in grossen Organisationen wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen oder dem Reformierten Weltbund (RWB).

Beim RWB haben wir die Klärung verlangt – und tun dies weiterhin –, welche Kernfragen gelöst werden sollen. Der RWB hat nicht viel Geld, aber er ist wichtig für uns, weil die Ökumene immer stärker zwischen Konfessionsfamilien und immer weniger zwischen einzelnen Kirchen geschieht. Die Marke „reformiert“ ist keine Schweizer Marke, darum brauchen wir eine reformierte Kirchengemeinschaft, die grösser ist als unser Land. Gerade, wenn wir aus dem Konfessionalismus hinausfinden wollen, müssen wir unsere eigene Konfessionsfamilie stärken. Nur dort wage ich noch auf nachhaltige ökumenische Fortschritte unter Kirchenleitungen zu hoffen.

Wir haben versucht, die Vollversammlung in Ghana 2004 mitzugestalten und klar gemacht, was uns neben dem Thema Globalisierung auch noch wichtig ist, nämlich die Zusammenarbeit mit den anderen evangelischen Kirchen, insbesondere mit dem Lutherischen Weltbund. Da geht es nicht nur um Theologie, sondern ebenso um die kirchliche Zusammenarbeit, in der Leitung und an der Basis.

Durch die RWB-Vollversammlung in Accra im Sommer 2004 wurde der Eindruck verstärkt, der scharfe Protest gegen Globalisierung mache den gemeinsamen weltweiten Nenner der Reformierten aus.
Zuerst das Positive: Es ist typisch reformiert, dass wir uns gleichzeitig als Christen und Bürger betätigen und insofern politische Fragen ins Zentrum des Glaubens und Kircheseins hineinnehmen. Die Schattenseite – und da gebe ich Ihnen Recht: Wir haben es versäumt, andere Seiten der kirchlichen Zusammenarbeit genügend wahrzunehmen: Bekenntnis, kirchliches Zusammenleben und Austausch, Bildung, gemeinsames Feiern, Gebet. Alle diese Dinge, die auch Kirche ausmachen, wurden und werden stiefmütterlich behandelt.

Wir müssen aber als Reformierte selbst Entwicklungen lancieren. Es hilft uns niemand, im eigenen Haus Ordnung zu machen, der nicht selber in diesem Haus wohnt. Andere Konfessionen sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Wenn wir Reformierte uns in erster Linie mit wirtschaftlichen und politischen Stellungnahmen beschäftigen, sehe ich wenig Hoffnung sowohl für die verbesserte Zusammenarbeit unter reformierten Kirchen als auch für die Ökumene.

In reformierten Kirchen wurde traditionell der Bund Gottes mit den Menschen betont. Heute wird die Liebe Gottes, sein ‚grosses Ja’ verkündigt, weniger die andere Seite: dass wir gemeinsam zu Gott verbindlich Ja sagen und daraus den Alltag gestalten sollen. Ist das ein Faktor für das mangelnde Profil der reformierten Kirchen?
Mich beschäftigt eher, dass das, was Sie ansprechen, bei uns so selbstverständlich geworden ist. Unsere Kirchen haben grosse diakonische Werke aufgebaut und damit verdeutlicht, dass Gottes Liebe von uns erwidert und ins Leben umgesetzt werden will. Wir sollen die Welt nach Gottes Willen verändern. Unsere reformierten Kirchen haben das mit grosser Überzeugung und eindrücklich getan.

Heute ist dieses Wirken aber derart institutionalisiert und etabliert, dass wir es nicht mehr als Gottesdienst im Alltag wahrnehmen. Viele diakonische Aufgaben sind an den Staat übergegangen. Dass ein Zusammenhang zwischen Anbetung Gottes und dem Tun des göttlichen Willens, also der Diakonie besteht, das tritt in den Hintergrund.

Das ist tatsächlich ein gewichtiges Problem: Die reformierte Tradition neigt dazu, sich zu säkularisieren. Darauf muss man heute mit einer Bejahung und Betonung des Gottesdienstes, der Predigt, des Abendmahls antworten. Dazu gehört eine Liturgie, die endlich weniger intellektualistisch und dafür ganzheitlicher, menschlicher wird. Es kann kein tragfähiges reformiertes Profil sein, dass wir gute Sozialethiker aber armselige Liturgen sind.

Aber auch hier ist zu sagen: Es kann nicht nur um das individuelle Angesprochensein durch Gott gehen. Wenn ich eine Fehlentwicklung im Protestantismus sehe, dann ist es die Überbetonung der individualisierten Beziehung des Menschen zu Gott. Wenn wir von Gott angesprochen werden, werden wir doch als Leib Christi immer zusammen mit anderen von Gott angesprochen. Das geschieht in erster Linie im Gottesdienst und in der Gemeinde.

Wenn dem so ist, dann brauchen wir sichtbare Zeichen und Signale, die klar machen, dass wir nicht nur hier vor Ort Leib Christi sind, sondern zusammen mit den anderen Kirchen rund um die Welt, und dass wir das nicht nur im Jetzt und Heute sind, sondern zusammen mit allen Christinnen und Christen vor und nach uns.

Das Wort Katholizität bedeutet vom ursprünglichen griechischen Wortsinn kat-holos her „bezogen sein auf die gesamte Kirche von Christus“. Das will ich auch in meiner reformierten Kirche sehen: sichtbare Zeichen der Einheit mit den anderen Kirchen, damit wir selber glaubwürdig Kirche sein können.

Fortsetzung des Gesprächs mit Gottfried Locher: "Wir kennen keinen Gott jenseits von Gottes Sohn“ – Wege zum Aufbruch der reformierten Kirchen

Pfr. Dr. theol. Gottfried Locher arbeitet als Vizepräsident im Reformierten Weltbund. Er ist zuständig für die ökumenischen Dialoge auf Weltebene und für die Stärkung der Gemeinschaft unter den Mitgliedkirchen. Er lebt in der Region Bern.

Reformierter Weltbund
http://warc.jalb.de/warcajsp/side.jsp?news_id=8&part2_id=22&navi=12

Reformierte Kirchen in der Schweiz
www.ref.ch

Mehr zum Thema: www.jahreswechsel.livenet.ch

Datum: 27.12.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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