Volkskirche und Täufer
Schritte zur Heilung auf beiden Seiten
Der Konferenz-Organisator, die Stiftung Schleife, brachte nun erstmals Schweizer Christen aus den reformierten Landeskirchen und aus Freikirchen, unter ihnen Vertreter der Mennoniten, mit einer Amisch-Gruppe und Mennoniten aus den USA zusammen. In persönlichen Begegnungen, Lobpreis- und Gebetszeiten sowie bei zwei Ausflügen mit Feiern in Zürich und Bäretswil wurde Vergebung ausgesprochen und Versöhnung erlebt.
Zu den Referenten in Winterthur gehörte Paul Veraguth, reformierter Pfarrer in Wattenwil im Berner Gürbetal. In seinem neuen Büchlein ‚Heile unser Land' hat er die folgenschwere Entwicklung in Zwinglis Zürich geschildert und Anstösse zu ihrer Aufarbeitung gegeben. Hier ein Interview mit Paul Veraguth zur Brisanz der Konferenz und ihrem Verlauf; ein Rückblick auf die Konferenz und ein Interview mit Ben Girod, dem Leiter der Amischen, folgen.
Livenet: Paul Veraguth, was geschieht an dieser Konferenz?
Paul Veraguth: Eigentlich ist sie ein Familientreffen. In der Reformationszeit wurde das Familiäre der Gemeinschaft im Reich Gottes entdeckt: Freundschaft, Bruderschaft. Diese Beziehungen wurden nach wenigen Jahren auseinandergerissen durch bestimmte kirchenpolitische Entscheide, für die man Zwingli nicht aus der Verantwortung entlassen kann, bei denen aber auch gegenseitige Polarisierung mitspielte.
Durch die Entscheide des Zürcher Rats und Zwinglis wurde die reformierte Kirche wieder die ‚Düürzug'-Institution, die auf die Förderung persönlicher Glaubenspraxis im Sinn der Bergpredigt weithin verzichtet. Sie arrangierte sich zur Selbsterhaltung mit der Stadtregierung. Der Preis dafür war das Auseinanderfallen der Bruderschaft Zwinglis mit seinen Freunden.
Die ursprüngliche Entdeckung dieser Bruderschaft - so etwas wie eine Erweckung in Zürich - ging verloren. Jetzt, viele Generationen später, spüren wir wieder, im Kleinen, mit 50 Mennoniten an der Konferenz, dass wir eine Familie sind.
Familie – in welchem Sinn entsteht da neue Gemeinschaft?
Nun, weil die Sippen der Täufer so weit verzweigt sind, kommt es auch vor, dass man biologische Verwandtschaft wieder entdeckt. Gestern traf ich eine Frau, die ich überhaupt nicht kannte. Im Gespräch stellte sich heraus, dass wir um sieben Ecken herum miteinander verwandt sind. Täufer gehören zu meinen Vorfahren.
Die Familienbande entdecken wir nicht nur, weil wir gemeinsam das Wort Gottes hören und beschenkt werden, sondern vor allem, weil wir wirklich verbunden sind durch denselben Vater. Das macht eine Familie aus. Durch den Heiligen Geist ergibt sich fast so etwas wie eine genetische Zusammengehörigkeit. In ihm sind wir Kinder des einen Vaters, werden beschenkt und können einander diese Geschenke weitergeben.
Grundsätzlich trennt uns nichts - das ist das Wichtigste. Vor diesem Hintergrund erleben wir: Keine Schuld der Vergangenheit, keine Verfolgung, keine Traumatisierung, auch keine Gleichgültigkeit über Jahrhunderte soll und kann uns weiterhin trennen. Wir gehören zu einer und derselben Familie, auch wenn wir verschiedene Hauben auf den Köpfen und unterschiedliche Kirchenbezeichnungen haben.
Am Freitag waren 50 reformierte Pfarrer da. Wir wuschen den Amischen die Füsse. Das gab viel Tränen. Wir spürten: Das ist jetzt wieder wie daheim in der Stube. Das ist ein Dienen, Liebe, die sonst meist nur auf dem Papier steht - aber hier ereignet sie sich wirklich.
Wir haben auch Zeiten des Versöhnungsgebets, in denen Leute von der Mennoniten und aus der Kirche füreinander beten und einander vergeben. Ich erlebte das gestern. Es war sehr hilfreich und wohltuend - dass man überhaupt wahrnimmt, wohin der Andere gekommen ist in über 450 Jahren. Was sind Hypotheken, was sind Verheissungen, wo liegen die spezifischen Gaben und Berufungen der anderen Gemeinschaft?
Wenn wir das gegenseitig wahrnehmen, können wir uns unterstützen, uns eins machen und den bestehenden Defiziten begegnen, aber auch vom Reichtum der Andern beschenkt werden. - Das ist das Haupterlebnis an der Konferenz.
Gibt es in diesen Begegnungen Hindernisse? Stossen Sie auf Mauern?
Eine interessante Frage. Wer viele Konferenzen erlebt hat, weiss um das Phänomen der Hindernisse und Störfaktoren. Hier ist es anders. Ich meine, es ist die erste historische Konferenz in der Schweiz, die wirklich Geschehnisse des 16. Jahrhunderts aufarbeitet. Viele Leute interessiert das einen alten Hut. Diese Leute sind auch nicht hier.
Von den reformierten Landeskirchen kam kein Protest. Im Gegenteil, der Zürcher Kirchenratspräsident Pfr. Ruedi Reich hat zum Büchlein von Fritz Blanke über die erste Täufergemeinde in Zollikon 1525, das im Schleife-Verlag neu aufgelegt wurde, das Vorwort geschrieben. Das ist ein riesiger Schritt, etwas ganz Erstaunliches.
So haben wir gleichsam eine Insider-Konferenz von Leuten, die sich mit der Thematik besonders beschäftigen. Es ist nicht ein Anlass, bei dem es vor allem um individuelle Erlebnisse geht oder bei dem die Post abgeht. Sondern wir lassen uns konfrontieren mit einer geschichtlichen Realität, die uns lange geprägt hat und deren Ursprung viele gar nicht kennen. Wir arbeiten die Hintergründe auf; der erste Schritt dazu ist, sie uns erst einmal bewusst zu machen.
In welchem Sinn hat denn der Bruch Zwinglis mit den Täufern 1525 für die spätere Ausgestaltung der reformierten Kirche Weichen gestellt?
Es gibt verschiedene Ebenen: Zum einen wurden kirchenpolitische Entscheide getroffen. In der Angst, unterwandert und vergiftet zu werden von zu lebendigen Laien-Elementen, band sich die Kirche zu stark an die staatlichen Institutionen. Sie delegierte sehr viel von ihrer Autorität an den Staat, den Rat von Zürich. Das ersieht man aus den Protokollen. Schliesslich entschied der Rat, was und wie man in dieser Kirche zu glauben hätte. Da geschah eine strukturelle Grundentscheidung, die nach dem zweiten Kappelerkrieg 1531 (bei dem Zwingli umkam) nur insoweit korrigiert wurde, als die Zürcher Pfarrerschaft in weltlichen Dingen dem Rat nicht mehr dreinreden durfte. Diese Korrektur kam postwendend. Von ihr abgesehen, blieb das Verhältnis von Staat und Kirche in Zürich im Grunde gleich.
Als Zweites ist damals der kirchliche Umgang mit Dissidenten in Fragen der Taufe geprägt worden. Auch wenn viele Leute ihre Kinder heute nicht mehr taufen lassen - unterschätzen wir die Brisanz dieser Fragen nicht. Wenn Kirchenbehörden darauf angesprochen werden, reagieren sie wie von der Wespe gestochen, weil sie immer noch denken, dass mit diesem Punkt unsere Existenz und Berechtigung als Volkskirche steht und fällt, in der Meinung: wenn es uns nicht mehr gelingt, die allgemeine Kindertaufe durchzusetzen, sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen. Daraus erklärt sich die Nervosität im Umgang mit der Tauffrage.
Es war immer eine Existenzangst der Kirche, dass wenn sie an diesem Punkt ihre strikte Linie aufgibt, ihre volkskirchliche Grundlage, das althergebrachte allgemeine Christentum samt der dazu gehörenden Theologie im Nichts zerrinnt. Die Angst ist berechtigt, denn es geschieht tatsächlich auch. Allerdings nicht so, dass die Leute radikal werden und ihre Kinder nicht mehr taufen lassen. Vielmehr lassen sie heute aus Gleichgültigkeit die Taufe der Kinder sein, zum Beispiel indem sie aus der Kirche austreten. Auf diese Weise schwimmen uns heute die Felle davon.
Hat sich durch den Bruch Zwinglis mit den Täufern in der reformierten Kirche eine Abwehrhaltung gegenüber einem radikalen Ernstnehmen der Bibel fürs Leben festgesetzt?
Die Frage verschiebt sich im Lauf der Jahrhunderte. Die Vorstellung, dass man die Welt taufen kann, ist Unsinn. Wir sitzen ihr aber immer noch auf in der Kirche. Wir machen uns immer noch etwas vor. Dabei erweist es sich als ein arges Erbe der Kirche, dass man bekämpft, was irgendwie über den Durchschnitt geht, und diese Leute als Frömmler, die besser sein wollen, abqualifiziert.
Die Täufer waren ja immer Diener ihrer Mitmenschen. Das zeichnete sie aus und machte sie beliebt auf dem Land, dort wo man Nachbarschaft lebte. Aber die Theologen und Schriftgelehrten kehrten dies um und hielt ihnen vor, sie seien selbstgerecht und wollten besser sein als die andern.
Dass niemand über den Durchschnitt hinaus ragen darf, ist ein Stilelement in der Demokratie und in der Religion, ein Stilelement, das den natürlichen, nicht von Gott erneuerten Menschen kennzeichnet. Neid gibt es nicht nur in der Kirche; Sie finden ihn überall, auch im Buddhismus. Hier bei den Reformierten ist es ein spezifisches Problem: Es gibt hundert Gründe, warum es nicht sein soll, dass die Leute Jesus radikal nachfolgen.
Kurz: Es geht darum, dass Menschen, die Ohren haben und Gott reden hören, die Freiheit beanspruchen, die ihnen gegeben wird, ohne sie als Waffe zu brauchen. Dass sie trotz allen Widerständen weitermachen, auch wenn sie beschimpft und verfolgt werden. Dass sie daran festhalten, dass sie in Jesus die Gerechtigkeit und das Leben haben. Die Bergpredigt leitet zu einem Leben an, das sich erheblich von bürgerlichen Vorstellungen - wie auch von politisch-revolutionären Ideen - unterscheidet.
Was war für Sie der Höhepunkt der ersten Konferenz-Hälfte, am Donnerstag und Freitag?
Es war bewegend, und ich rede davon mit einer gewissen Scheu, wie die mennonitischen Gäste aus den USA ihren Jammer unter Tränen offengelegt haben. Die Mennoniten aus dem Lancaster County in Pennsylvania haben wirklich ihre Traumatisierungen, die Fixierungen aus der langen Leidenszeit, die sich aufs ganze Erziehungswesen und aufs Gemeindeleben auswirkten - das Verbergen und Totschweigen unschöner Dinge, das Besser-Sein-Müssen - auf den Tisch gelegt. Für mich das Grösste, was geschehen kann. Der Keim der Erneuerung.
Wenn das nicht geschieht, nicht geschehen darf, wenn diese Dinge im Verborgenen gehalten werden, etwa aus der Angst, wieder missbraucht zu werden, wenn man also nicht offen und ehrlich ist - dann kann nichts geschehen. Aber wenn der Durchbruch zur Offenheit geschieht - dann werden Welten neu. Die Leiter der Vertretung der Mennoniten sagten am Mikrofon, worunter sie leiden. Diese tiefe, enorme Ehrlichkeit kann ein Wendepunkt für ihre Geschichte sein. Sie ist es auch für unsere Geschichte, denn solche Dinge beeinflussen sich wechselseitig.
Am Freitag - dies das Zweite - fand im Rahmen der Konferenz ein Pfarrertreffen statt. Über 50 Pfarrer aus der Deutschschweiz und einige aus Deutschland nahmen daran teil. Wir hatten eine Zeit des Bereuens, der Busse. Ich glaube, dass sie viel bewegt hat. Wir erkannten miteinander, wie dieses Erbe Zwinglis, seine Entscheidung gegen die Täufer, heute noch nachwirkt: in uns und unseren Diensten, in den Strukturen, in unseren Kirchen, unseren Verlautbarungen und Haltungen gegenüber Andersdenkenden. Wir wurden in eine Busse hineingeführt, und ich hoffe, dass daraus Erneuerung wächst - für unsere Kirche!
Ich glaube, dass diese Art der Begegnung immer beiden Seiten weiterhilft. Es ist nicht so, dass die einen die Helden sind, indem sie den anderen die Füsse waschen - und jene dann innerlich gelöst und im Frieden von der Konferenz heimkehren. Sondern wir brauchen Heilung genauso.
Webseiten:
www.schleife.ch
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch