Überschätzte Kreativität
Warum alle kreativ sind – und warum das wichtig ist
Wenn wir von «den Kreativen» reden, dann meinen wir in der Regel Künstler. Also Maler, Autoren, Musiker, vielleicht noch Grafikdesigner oder Werbetexter. Der Umkehrschluss würde bedeuten: Alle anderen gehören nicht dazu. Vorsicht. Dies ist völlig verkehrt. Und dabei geht es nicht um Wortklauberei, sondern darum, wer wir in Gottes Augen sind.
Der Fluxus-Künstler Joseph Beuys wurde mit seinem Ausspruch bekannt: «Jeder Mensch ist ein Künstler.» Instinktiv würden jedoch viele ergänzen: «Okay, aber ich nicht.» Was stimmt denn nun? Kommt Kunst von Können? Sind nur wenige talentiert? Oder hat tatsächlich jeder das Zeug zum Kreativen?
Kreativität und die Bibel
Kreativität ist der Bibel immerhin so wichtig, dass sie damit beginnt – mit dem Erschaffen unserer Welt – und endet – mit dem Erschaffen der neuen, ewigen Welt. «Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde», heisst es in 1. Mose, Kapitel 1, Vers 1. Doch wer diesen Massstab der Kreativität bei sich anlegt, der muss enttäuscht in den Spiegel schauen: Bei aller Kreativität ist es nicht unser Ding, etwas aus dem Nichts hervorzubringen. So ist es Theologen immer wieder wichtig zu betonen, dass Gottes Schöpfung eine «creatio ex nihilo» ist, eine Schöpfung aus dem Nichts.
Unsere Kreativität setzt dagegen Vorhandenes neu zusammen und schafft keine neuen Welten aus dem Nichts. Ist sie deswegen zweitklassig? Nein. Sie ist Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Und zwar von Anfang an. Kreieren und kultivieren gehört laut Bibel zur menschlichen DNA: «Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewahre» (1. Mose, Kapitel 2, Vers 15). Einordnen und benennen gehört dazu: «Da gab der Mensch jedem Vieh und Vogel des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen» (1. Mose, Kapitel 2, Vers 20). Und noch manches andere.
Sterne streuen
Jetzt mag sich eine Mutter fragen, die gerade ihre Grossen in den Kindergarten gebracht hat, und versucht, die Wohnung wieder in einen einladenden Zustand zu bringen, bevor das Baby aufwacht und wieder ihre ganze Zuwendung braucht, wo denn da noch Raum für Kreativität bleibt. Und ein Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung mag sich dasselbe fragen, während sein Aktenstapel gefühlt bis an die Decke wächst. Wenn wir Kreativität überhöhen, dann ist all das nur alltäglich und nicht kreativ.
Doch gehen wir noch einmal zurück in die Schöpfungsgeschichte. Der Mensch gibt den Tieren ihre Namen – das ist ein höchst kreativer Vorgang. Der Mensch gibt allen Tieren ihre Namen – das ist anstrengende Arbeit und Routine. Beides stimmt. Wir können uns jetzt darüber ärgern, dass selbst Kreatives alltäglich werden kann, oder wir freuen uns, dass auch Alltägliches kreative Elemente enthält.
Jeder ist kreativ. Beim Tischdecken und Dekorieren, bei der Erziehung unserer Kinder und dem Bemühen, ihnen unsere Liebe zu zeigen, beim Treffen mit Freunden und natürlich auch beim Singen unter der Dusche. Der US-Autor Andrew Peterson hat darüber ein Buch geschrieben: «Adorning the Dark – Das Dunkel schmücken». Ihm ist wichtig: «Ich möchte die Wahrheit so schön wie möglich sagen. Das mag eine Kleinigkeit sein. Aber ich denke dabei an die unendliche Leere des Weltalls und an die Sterne, die es wie eine himmlische Leinwand schmücken. Darauf will ich hinaus. Scheinbar Kleines ist wirklich wichtig. Und wir als Christen können entweder Angst vor der Dunkelheit haben oder wir können Sterne darüber streuen.»
Jeder ein Künstler
Die meisten kennen in ihrem Alltag Zeiten, wo sie sich nicht besonders kreativ vorkommen – selbst Künstler. Und doch berührt Joseph Beuys mit seinem Ansatz einen ganz wichtigen Punkt. Jeder ist ein Künstler. Jede und jeder ist kreativ. Das ist keine Wortklauberei. Es gibt uns als Menschen den Adel, den Gott sich gedacht hat. Wir funktionieren nicht nur, wir gestalten. Wir existieren nicht nur, wir leben. Wir sind nicht irgendwer, sondern Gott hat gesagt: «Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich» (1. Mose, Kapitel 1, Vers 26). Als Gottes Ebenbild sind wir so etwas wie Subunternehmer des kreativen Schöpfers. J.R.R. Tolkien prägte diesen Gedanken – zu einer Zeit, als «Subcreator» noch nicht nach einem schlecht bezahlten Arbeiter klang. Wir sind alle kreativ. Und das ist keine Nebensache.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet