Unvereinbare Standpunkte?

Finnland: Räsänen-Prozess legt Karten auf den Tisch

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Päivi Räsänen (Bild: Instagram)
Am Montag, den 24. Januar, begann vor dem Bezirksgericht Helsinki der mit Spannung erwartete Prozess, in dem die Anklage gegen die Parlamentsabgeordnete Päivi Räsänen und Bischof Juhana Pohjola verhandelt wird.

Beiden wird vorgeworfen, gegen eine ethnische Gruppe gehetzt zu haben. Laut Staatsanwaltschaft hat Räsänen in einer von der Luther-Stiftung Finnland herausgegebenen Broschüre, in sozialen Medien und in einer Radiosendung Homosexuelle beleidigt. Pohjola ist der Chefredakteur der Luther-Stiftung, die die Broschüre veröffentlicht hatte.

Geldstrafen gefordert

Zu Beginn des Prozesses verlas Staatsanwältin Maija Päivinen die Anklage gegen Räsänen und Pohjola. Die Staatsanwältin fordert einen Freiheitsentzug von mindestens 120 Tagen für Räsänen und 60 Tagen für Pohjola. Darüber hinaus forderte der Staatsanwalt eine Gemeinschaftsstrafe von mindestens 10'000 Euro für die finnische Luther-Stiftung.

Räsänen und Pohjola streiten die Vorwürfe ab. Vor Beginn des Prozesses erklärte Päivi Räsänen, sie sei bereit, bis zum Ende zu kämpfen und notfalls durch alle Instanzen zu gehen.

Staatsanwältin Anu Mantila las Auszüge aus der Broschüre «Männlich und weiblich – Er hat sie erschaffen» vor. «Räsänen zufolge sollten Homosexuelle als minderwertige Menschen betrachtet werden. Die Äusserungen verletzen die Würde von Homosexuellen und sind geeignet, Verachtung und Hass gegen sie zu wecken. Damit überschreiten sie die Grenzen der Meinungs- und Religionsfreiheit», erklärte Mantila.

«Einfach nur Bibelstellen zu zitieren, wäre kein Verbrechen»

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Bischof der evangelisch-lutherischen Missionsdiözese Finnlands, Juhana Pohjola
Mantila betonte, dass es bei der Klage nicht darum gehe, wie die Bibel zu interpretieren sei oder was die Bibel unter der Ehe verstehe. «Räsänen und Pohjola sind nicht hier, um vor der Inquisition wegen Ketzerei verurteilt zu werden. Jeder darf glauben, was er will. Die Religions- und Gewissensfreiheit schliesst das Recht ein, seine Überzeugungen zu äussern, aber diese Freiheit kann eingeschränkt werden, um andere Freiheiten zu schützen», erklärte die Staatsanwältin und fuhr fort: «Das blosse Zitieren von Bibelstellen ist kein Verbrechen. Wenn jedoch jemand die Bibel auf eine bestimmte Art und Weise auslegt und seine eigene Meinung dazu veröffentlicht, kann dies eine Straftat darstellen, wenn er eine Person oder eine Gruppe von Menschen beleidigt.»

«Extrem und fundamentalistisch»

Die Ansichten in der Broschüre seien in sich widersprüchlich. «Es scheint, dass die linke Hand der Autorin nicht weiss, was die rechte Hand tut. Man kann nicht sagen, dass Homosexuelle Würde haben, und gleichzeitig behaupten, dass sie sie nicht haben. Beleidigung kann nicht erklärt oder beseitigt werden, indem man sagt, dass jeder ein Sünder ist und dass Christus für alle gestorben ist.»

Nach Ansicht der Staatsanwältin sind die Äusserungen Räsänens «ein typisches Beispiel für extremes christliches Denken». «Sie repräsentieren eine fundamentalistische Doktrin: 'Liebe den Sünder, hasse die Sünde.' Es ist eine logische Unmöglichkeit zu sagen, dass Taten falsch sind, aber das Sein nicht. Falsches Tun bedeutet zwangsläufig falsches Sein.»

Verteidigung: Verzerrung und faktische Fehler in der Anklage

Nach Ansicht des Anwalts von Päivi Räsänen, Matti Sankamo, enthält die Anklage Verzerrungen und sachliche Fehler. Darüber hinaus habe die Staatsanwältin Sätze aus der Broschüre von 2004 aus dem Zusammenhang gerissen.

«Im Gegensatz zu dem, was die Staatsanwältin sagt, wird in der Broschüre nicht behauptet, dass man Homosexualität ablegen muss. Auch behauptet die Broschüre nicht, dass Homosexuelle als Menschen minderwertig sind. Stattdessen heisst es, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollten, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. Räsänen wiederholt dies in der Broschüre und in der Radiosendung.»

Person von Taten trennen?

Nach Ansicht von Verteidiger Sankamo ist die Anklage in einem Punkt sehr ungewöhnlich. «Meines Wissens ist dies der erste Prozess in Finnland, in dem die Angeklagte beschuldigt wird, in einem Text, in dem sie die Leser ausdrücklich zur Achtung der Menschenrechte auffordert, eine Gruppe von Menschen aufgehetzt zu haben.»

Sankamo fügte hinzu, dass es in Finnland kaum engagierte Christen gebe, die der Aussage «Liebe den Sünder, hasse die Sünde» nicht zustimmen würden. «Die religiöse Voraussetzung ist, dass eine Person von ihren Taten getrennt werden kann. Wären diese ununterscheidbar, wäre es sinnlos, über die funktionalen Auswirkungen der Religion zu sprechen.»

Unmoral und Kindsmissbrauch?

Räsänen selbst wies in ihrem Plädoyer die Behauptung der Staatsanwaltschaft kategorisch zurück, dass sie in ihrer Broschüre eine homosexuelle Orientierung mit einer Orientierung zum Kindsmissbrauch verbinden würde. «In meiner Broschüre spreche ich von einer Sexualerziehung ohne Werte, die dazu führt, dass junge Menschen immer früher sexuelle Experimente machen. Dies ermöglicht es auch Erwachsenen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, Kinder und Jugendliche zu missbrauchen», verteidigte sich Räsänen. «Der Grund, warum in der Broschüre Jungen erwähnt werden, ist, dass das Thema der Broschüre gleichgeschlechtliche Beziehungen sind. Ich weise darauf hin, dass auch Mädchen davon betroffen sein können. Während meiner gesamten politischen Laufbahn habe ich mich dafür eingesetzt, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern.»

Die Bibel spricht von Taten, nicht von Identität

Päivi Räsänen wies auch die Behauptung des Staatsanwalts zurück, dass sich ein Mensch von seiner Homosexualität befreien sollte. «Das habe ich nicht gesagt und ich glaube es auch nicht. Die Bibel spricht ausdrücklich von Taten, nicht von der menschlichen Identität.» Laut Anklage hält Räsänen Homosexuelle für minderwertiger als andere. Auch dieser Punkt des Vorwurfs ist nach Ansicht der Parlamentarierin nicht zutreffend. «Das widerspricht völlig meinem Glauben, der besagt, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Alle Menschen sind gleich, unabhängig von ihren Eigenschaften und ihrem Handeln. Ich halte diese Behauptungen für eine Beleidigung sowohl meiner Person als auch der Homosexuellen.»

Räsänen betonte, dass alle Menschen von Gott geschaffen sind, aber auch vor Gott sündigen. «Ich denke, das grosse Problem ist, dass man nicht unbedingt die grundlegende Ansicht des Christentums versteht, dass der Mensch unendlich wertvoll, aber auch sündig ist, unabhängig von seiner oder ihrer sexuellen Orientierung.»

«Der Staatsanwalt vertrat keine Objektivität»

Auch Bischof Juhana Pohjola kritisierte in seiner Rede die Sichtweise des Staatsanwalts. «Wenn man nicht zwischen der Liebe zu einem Sünder und dem Hass auf die Sünde unterscheiden kann, wird das Gesetz Gottes und die Verkündigung des Evangeliums in der Praxis eingeengt», sagte er dem Gericht.

Kritisch äusserte sich Pohjola zum Sprachgebrauch der Staatsanwälte. «Obwohl die Staatsanwälte sagten, dass es hier nicht um Theologie geht, sprachen sie selbst mit abwertenden Ausdrücken über Fundamentalisten und Engstirnige, obwohl es sich bei unserer Auffassung von der Ehe um eine christliche Hauptströmung handelt. Der Staatsanwalt hat in diesem Fall in keiner Weise Objektivität bewiesen.»

Freiheit für den gesellschaftlichen Diskurs

Der Anwalt von Räsänen fügte schliesslich hinzu, dass das Verbot, die LGBTI-Bewegung zu kritisieren, die gesamte politische Debatte zum Erliegen bringen würde. Er zitierte dazu u.a. den Europäischen Menschenrechtshof, nach dem Kritik und sogar Äusserungen, die von einigen als beleidigend empfunden werden könnten, um bestimmte Ideen zu verteidigen, nicht verboten werden sollten, wenn dadurch gesellschaftspolitische Diskurse eingeschränkt würden.

Nach achteinhalb Stunden, einschliesslich Pausen, wurde die Sitzung des Gerichts gegen 18:00 Uhr beendet. Die Schlussplädoyers wurden auf den 14. Februar 2022 vertagt.

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Datum: 29.01.2022
Autor: Evangelical Focus / Reinhold Scharnowski
Quelle: Evangelical Focus / Uusi Tie / Livenet

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