«System ist ausser Kontrolle»

Niederlande: Euthanasie geht immer weiter

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In den Niederlanden ist es zukünftig erlaubt, demente Patienten auch gegen ihren Willen zu töten, so lange eine frühere Patientenverfügung das hergibt. Selbst Verfechter der Euthanasie erklären: «Das System ist entgleist».

Eine Ärztin in den Niederlanden wurde in der letzten Woche vom Vorwurf des Mordes freigesprochen, nachdem sie 2016 einer schwer dementen Frau ein tödliches Medikament gegeben hatte, obwohl sich diese dagegen wehrte.

Von der Familie festgehalten

Die 74-Jährige hatte laut Medienberichten schriftlich festgelegt, dass sie im Falle eines unerträglichen Leidens sterben wolle. Sie schränkte dies mit den Worten ein: «Wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist.» Wenig später erkrankte die Frau an Alzheimer. Nach Umzug in ein Pflegeheim hatten der Ehemann und die Familie entschieden, dass die Frau getötet werden soll, obwohl sie selber mehrfach gesagt hatte, der Zeitpunkt dafür sei noch nicht gekommen. Die nun freigesprochene Ärztin gab der Demenzkranken ohne deren Wissen zuerst ein Beruhigungsmittel und dann ein tödliches Medikament. Als die Sterbende aufwachte und sich wehrte, hielten Angehörige sie fest, bis sie starb.

Die Vorsitzende des deutschen Bundesverbandes Lebensrecht, Alexandra Maria Linder, übte gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea scharfe Kritik an dem Urteil: «Die Vorstellung, wie die eigene Familie die sich wehrende Ehefrau, Mutter, Oma festhält, damit sie umgebracht werden kann, ist entsetzlich. Wer das will oder auch nur hinnimmt, hat jegliche Form der Humanität abgelegt.»

Tödliche Injektion bei Altersdemenz

Im Jahre 2002 waren die Niederlande das weltweit erste Land, das die Euthanasie, wie sie dort unverblümt genannt wird, legalisierte. Zwischen 2012 und 2016 stieg die Zahl der Sterbehilfe-Fälle in den Niederlanden um 31 Prozent. Allein 2017 gingen 38 Prozent mehr Anfragen in den sogenannten Lebensende-Kliniken ein. 2015 wählten 5'516 Menschen in dem Land den Tod durch eine Injektion. 2016 waren es bereits 6'091. Im Jahre 2018 wurden ebenfalls über 6'000 Menschen durch aktive Sterbehilfe getötet, das sind vier Prozent aller Verstorbenen.

Überdurchschnittlich häufig wird Euthanasie im Fall von Demenz angewendet. Linder zufolge geben die regionalen Kontrollkommissionen zu, dass nicht alle Fälle gemeldet würden und nicht bei allen Getöteten der Sterbewille eindeutig nachzuweisen sei. Berna van Baarsen, eine Medizinethikerin, die für die Kontrolle der Euthanasiewünsche zuständig war, ist 2018 aus Protest gegen die hohe Zahl von Demenzpatienten, die getötet werden, zurückgetreten. Sie erklärte, sie könne den «deutlichen Wandel» in der Auslegung der Sterbehilfe-Gesetze in Bezug auf Altersdemenz nicht mittragen. Die Zahl der jährlichen Tötungen in dieser Patientengruppe habe sich in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht. Mehr als 200 niederländische Ärzte hatten im Februar 2017 ebenfalls öffentlich gegen Euthanasie bei fortgeschrittener Demenz protestiert.

«Unerträglich» reicht – Sterbehilfe wird zu normaler Todesart

Längst ist die aktive Sterbehilfe in den Niederlanden nicht nur Menschen vorbehalten, die dement oder unheilbar und tödlich krank sind. Auch jedes nicht tödliche Leiden kann sofort beendet werden. Es muss nur als unerträglich diagnostiziert werden, wie «Zeit online» schreibt: «Demenzkranke lassen sich töten, Depressive, Menschen mit Borderline-Störung, Behinderte.» Auch Alkoholiker.

«Die Sterbehilfe wird immer mehr zu einer normalen, präferierten Todesart», sagt der niederländische Theologe und Ethikprofessor Theo Boer im Gespräch mit «Christ & Welt». «Wir haben diese Entwicklung nicht kommen sehen, als wir die Sterbehilfe 2002 legalisiert haben.» Theo Boer war fast zehn Jahre Mitglied der Kontrollkommission für Sterbehilfe und hat 4'000 Fälle begutachtet. 2015 trat er zurück und verspürte eine «riesige Erleichterung». Heute ist er ein harter Kritiker des Euthanasie-Systems: «Die Situation gerät ausser Kontrolle. Manchmal glaube ich, dass eine Todessucht die Niederlande befallen hat.»

«System ist entgleist»

Auch der prominente Psychiater Boudewijn Chabot, Befürworter und Vorkämpfer der Euthanasiegesetze seines Landes, äussert heute massive Kritik: Die einst strengen gesetzlichen Schutzmassnahmen für die Sterbehilfe brächen weg, Menschen mit psychiatrischen Leiden oder Demenz würden nicht mehr geschützt. Die sogenannte «Lebensende-Klinik» bekommt immer mehr Zulauf, die jenen Patienten eine Tötung auf Wunsch anbietet, wo Ärzte diese zuvor abgelehnt hatten. Chabot gibt heute zu: «Das System in den Niederlanden ist entgleist» und ergänzt: «Ich weiss nicht, wie wir den Geist wieder in die Flasche zurückbekommen.»

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Datum: 27.04.2020
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / idea D / imabe

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