Gegen Mord und Krieg
Die unbekannte Seite mancher Weihnachtslieder
Zu keiner Zeit des Jahres stehen christliche Lieder so hoch im Kurs wie zu Advent und Weihnachten. Gerade die alten Klassiker finden da Beachtung. Doch in diesen Liedern ist längst nicht nur vom «süssen Jesulein in der Krippe» die Rede.
Manch ein Liederdichter wollte einfach das Wunder besingen, dass Gott Mensch geworden ist. Doch viele andere setzten die Geburt von Jesus in Beziehung zu ihrer eigenen Situation. Aus diesem Grund sind einige Lieder in Vergessenheit geraten – ihre Lebenswirklichkeit ist zu weit von unserer entfernt. Andere klingen trotz ihres Alters erstaunlich aktuell oder berühren uns, selbst wenn wir ihren Hintergrund nicht unbedingt kennen. Zu diesen Liedern gehören das altbekannte «Tochter Zion» und «O Heiland, reiss die Himmel auf». Weihnachtslieder? Ja, aber noch viel mehr.
Frieden statt Krieg
Tochter Zion,
freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
Sieh, dein
König kommt zu dir, ja, er kommt, der Friedefürst.
Tochter Zion,
freue dich, jauchze laut, Jerusalem!
Krieg und Frieden wechseln ständig in der Geschichte von «Tochter Zion». Georg Friedrich Händel komponierte die Melodie zunächst als Siegeslied für sein biblisches Joshua-Oratorium. «See the conqu'ring hero comes» – seht, der erobernde Held kommt – wurde aber nicht nur dort gesungen. Denn etwas später widmete Händel das triumphale Stück um und die Engländer sangen es 1746 in der blutigen Schlacht von Culloden, in der das alte Schottland der Clans unterging. Heute kaum vorstellbar bejubelte das englische Volk zur Melodie von «Tohochter Zion» die Niederlage der Schotten.
Doch die eingängige Melodie war noch lange nicht am Ende ihrer Karriere. Fast 100 Jahre später war der evangelische Pfarrer Friedrich Heinrich Ranke begeistert von der schwungvollen Weise. Er nahm den Text aus Sacharja, Kapitel 9, Vers 9 und legte ihn darunter: «Frohlocke sehr, du Tochter Zion; jauchze, du Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir; ein Gerechter und ein Retter ist er, demütig und reitend auf einem Esel, und zwar auf einem Füllen, einem Jungen der Eselin.» Damit war eines der bekanntesten Advents- und Weihnachtslieder geboren.
Noch einmal fiel der Schatten eines Krieges auf das Lied, als es in Nazi-Deutschland aus den Gesangbüchern gestrichen wurde. «Tochter Zion» passte nicht zur antisemitischen Weihnacht des Dritten Reichs. Inzwischen ist dies Gott sei Dank Geschichte und es heisst wieder in jeder Adventszeit: «Sieh, dein König kommt zu dir, ja, er kommt, der Friedefürst».
Nie wieder Hexenverbrennung
O Heiland, reiss
die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.
Das 16. und 17. Jahrhundert waren von vielerlei Katastrophen geprägt. Und die Suche nach den Verantwortlichen dafür endete in einem der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte: dem Hexenwahn. Zehntausende von Menschen wurden unter fadenscheinigsten Gründen gefoltert und hingerichtet, besonders Frauen. 1633 veröffentlichte der Jesuit Friedrich Spee eine brillante Argumentation gegen diese unmenschliche Praxis, die «Cautio Criminalis» . Sie musste zunächst anonym erscheinen – zu brisant war das Thema. Doch die Schrift hatte grossen Anteil daran, dass die Hexenverfolgung schliesslich beendet wurde.
Derselbe Friedrich Spee schrieb wenige Jahre vorher sein bekanntestes Werk, das Lied «O Heiland, reiss die Himmel auf». Spee vertonte damit Jesaja, Kapitel 45, Vers 8: «Träufelt, ihr Himmel, von oben herab, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit! Die Erde tue sich auf, und es sprosse Heil hervor, und Gerechtigkeit wachse zugleich! Ich, der HERR, habe es geschaffen.»
Früher sah man darin nur die barocktypische Darstellung des Advents und der Sehnsucht nach einem Erlöser. Doch inzwischen sind sich die meisten Fachleute einig, dass mehr dahintersteht. So betonte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: «Das Lied ist kein Klingeling. Es ist der bittere Ruf nach Gerechtigkeit; es ist die Klage darüber, dass Weihnachten nicht kommt, obwohl es im Kalender steht. Die Klage legt die Enttäuschung frei und bricht der Sehnsucht Bahn. Sie ist der Versuch, sich zu wehren gegen kollektiven Wahn. Spee flieht nicht, auch nicht in simple Antworten. Er konnte den Terror nicht stoppen; aber er konnte tun, was ein Einzelner tun kann: ihn anklagen. Das hat er getan: Er hat es nicht bei Forderungen an den himmlischen Heiland belassen; er wurde zum Widerständler, zum Whistleblower des 17. Jahrhunderts. Sein Trostschrei-Lied ist an Weihnachten 2016 so erschütternd wahr wie 1622.» Und man mag ergänzen: Dasselbe gilt für Weihnachten 2019. Der Ruf nach Trost und Frieden in diesen Liedern mag Hunderte Jahre alt sein und ist gleichzeitig unser Ruf heute.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet