Psychiater Samuel Pfeifer
«Ängste sollten das Leben nicht einschränken»
«Wenn ich bloss diese Angst nicht hätte!» Jeder Mensch hat Angst vor gewissen Dingen oder Situationen und würde diese Angst wohl insgeheim aus der Welt schaffen wollen. Doch Halt, sagt der Psychiater und Theologe Samuel Pfeifer: Eine Angst loszuwerden, ist gar nicht so erstrebenswert. Im Interview erklärt er, weshalb das so ist, wie ein guter Umgang mit Ängsten aussieht und welche Rolle der Glaube dabei spielt.Wir alle kennen Ängste, beispielsweise vor Spinnen oder Höhenangst. Woher kommen solche Ängste?
Samuel Pfeifer: Wir haben tief in uns Sensoren für gefährliche Dinge. Angst hat primär eine Warnfunktion. Zum Teil warnt sie uns zu Recht, zum Teil stellt sich hinterher heraus, dass es nicht nötig gewesen wäre, Angst zu haben. In diesem Fall kann Angst auch krankhaft werden.
Häufig wissen wir ja rein rational, dass eine Angst unbegründet ist. Und doch haben wir Angst...
Wie die Temperamentforschung gezeigt hat, ist Ängstlichkeit ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen Menschen deutlich stärker ausgeprägt ist als bei anderen. 10 bis 15 Prozent aller Menschen haben von Kleinkind an eine deutlich erhöhte Angstneigung. Sie reagieren stärker auf Reize aus ihrer Umwelt und haben Mühe, sich an etwas Ungewohntes zu wagen. Ein solcher Reiz kann der Anblick einer Spinne sein oder auch eine schwierige Begegnung, etwa mit einer Autoritätsperson. Die Begegnung mag unproblematisch verlaufen sein und doch bleibt die darin erzeugte innere Spannung viel länger erhalten, als dies äusserlich gerechtfertigt ist. Mit anderen Worten: Die Angst, an sich etwas Gutes, schiesst über das Ziel hinaus.
Bis zu welchem Punkt ist eine solche Angst noch «normal», wann wird sie krankhaft?
Normal bzw. gesund ist die Angst, wenn sie ihre Warnfunktion erfüllt, so dass man beispielsweise mit dem Auto nicht zu schnell fährt. Normal ist, wenn die Angst abklingt, sobald die gefährliche Situation vorüber ist. Normal ist auch, wenn man die Angst sinnvoll einsetzen kann. So hat ein Klippenspringer vielleicht Angst vor einem Sprung, kann diese aber nutzen, um möglichst konzentriert und sicher zu springen. Die krankhafte Angst ist dadurch gekennzeichnet, dass der sie auslösende Reiz nicht angemessen ist, dass sie viel länger andauert und das Leben zunehmend einschränkt
Wann ist es angezeigt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Wenn ich merke, dass die Angst mich erfasst – und ich mir nicht mehr die Angst als Signal zunutze machen kann. Wenn die Angst sich selbständig macht, so dass ich ständig innerlich angespannt bin. Wenn sie psychosomatische Symptome wie Herzklopfen, Muskelanspannungen oder Unwohlsein auslöst. Wenn ich Dinge, die ich eigentlich tun sollte, oder Situationen zu vermeiden beginne. Bei solchen Anzeichen ist es an der Zeit, zumindest mit einer Vertrauensperson darüber zu sprechen und je nachdem dann auch professionelle Hilfe zu suchen.
Was ist das Ziel einer Therapie?
Eine Therapie soll Betroffenen helfen, gut mit ihrer Angst umzugehen. Das heisst nicht, eine Angst loszuwerden, denn als Warnsignal verdient sie immer Respekt. Aber sie kann überwunden werden, so dass sie keine Bedrohung mehr darstellt: Wir erlauben dem Angstsignal, das uns zunächst einen Schrecken versetzt, nicht mehr, unsere ganze Existenz zu durchdringen und uns zu lähmen. Dazu müssen wir lernen, das Angstsignal wahrzunehmen und klar zu verorten, es ganz bewusst auszuhalten, Distanz zu gewinnen, ein positives inneres Selbstgespräch zu führen und innerlich ruhig zu werden. Das macht uns frei, in unserem Leben so zu handeln, wie wir es wollen und wie es sinnvoll ist.
Was kann und muss eine betroffene Person selber beitragen, um zu einem solch guten Umgang mit ihrer Angst zu finden?
Der erste Schritt ist die Bejahung der Frage, die schon Jesus gestellt hat: «Willst du gesund werden?» Oder frei übersetzt: Willst du an dir arbeiten? Es ist ganz wichtig, der Angst ins Gesicht zu schauen und bereit zu sein, konkrete, in der Therapie erarbeitete Schritte zu tun.
Die Frage nach der Therapie hängt von der Art der Angst ab: Bei phobischen Ängsten, zum Beispiel vor Spinnen, Schlangen oder Höhenphobien, braucht es eine sogenannte Reizkonfrontation: Die betroffene Person setzt sich der Spinne aus und merkt dabei, dass sie ihr nichts anhaben kann. Bei sogenannt diffusen Ängsten, zu denen auch zwischenmenschliche Ängste zählen, ist hingegen das Gespräch gefragt, um Antworten zu finden auf Fragen wie: Woher kommen diese Ängste? Seit wann habe ich sie? Was macht mir Angst an dieser Person? Was könnte mir in der Begegnung mit ihr passieren? Da geht es um Themen wie Scham, Versagen oder das Ansehen bei anderen.
Inwiefern können sich christliche Seelsorge und Psychotherapie im Umgang mit Ängsten ergänzen?
Seelsorge und Psychotherapie haben viel gemeinsam. Gesprächsseelsorge kann wertvolle Unterstützung vermitteln und viele Funktionen einer Psychotherapie wahrnehmen, wenn sie fachlich informiert erfolgt und eine gute Beziehung anbietet. Voraussetzung ist ausserdem, dass die angstauslösende Situation, dabei auftretende Gedanken und Gefühle angeschaut und in einen christlichen Kontext gestellt werden.
Das heisst konkret?
Es kann helfen, einer Vertrauensperson aus dem kirchlichen Umfeld das Herz auszuschütten, einen ermutigenden Text zu lesen, im Gebet Ängste Gott gegenüber zu äussern, in der Stille Distanz zu gewinnen zu dem, was einem Angst macht. Die Bibel bietet dabei hilfreiche Unterstützung, etwa Aussagen der Psalmisten wie: «Der Herr ist mein Helfer, was können mir Menschen tun?» Wichtig ist aber auch der Einbezug des sozialen Umfelds, beispielsweise eines Hauskreises, der für die Person in einer schwierigen Situation betet. Die christliche Seelsorge hat damit ein grosses Repertoire von Möglichkeiten, Angst zu vermindern. Manchmal ist eine Angstreaktion jedoch so stark, dass sie durch glaubensvolles Vertrauen allein nicht lösbar ist und es fachliche Unterstützung braucht.
Arbeiten Sie als Psychotherapeut mit Seelsorgern zusammen?
Ja. Als Arzt und Therapeut verfüge ich zwar über zusätzliches Fachwissen, habe aber leider nicht immer so viel Zeit für die Klienten, wie ich es mir wünschen würde. So finde ich es ideal, wenn jemand regelmässige seelsorgerliche Begleitung hat und zwischendurch ein Gespräch mit mir vereinbart, sofern der Wunsch besteht, die Situation von fachlicher Seite genauer anzuschauen.
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen dem Glauben an einen liebenden, vertrauenswürdigen Gott und dem Empfinden von Ängsten?
Glaube ist im Grunde genommen Vertrauen – Vertrauen in Gott, der mich begleitet, in göttlichen Schutz. Wer dies für sich in Anspruch nehmen kann, zieht sicher einen Gewinn daraus. Schwierig wird es jedoch vor allem dann, wenn eine Angst körperliche Symptome hervorruft: Es ist gar nicht so einfach, zu sagen «danke, Jesus, dass du da bist», während sich alles in mir zusammenzieht. Das Beispiel von David zeigt, dass selbst ein sehr gottverbundener Mensch ausgeprägte Ängste haben kann. Und Jesus sagte: «In der Welt habt ihr Angst.» Es gibt Situationen, in denen der Mensch angstbesetzt reagiert, trotz Gottvertrauen.
Können Sie Unterschiede feststellen zwischen den Ängsten von gläubigen und nicht gläubigen Menschen?
Wie gesagt: Angst macht vor gläubigen Menschen nicht Halt. Eine starke, krankhafte Angstneigung kann die gesamte Persönlichkeit überschatten und auch christlich geprägte Ängste auslösen – wie die Angst, mit dem eigenen unvollkommenen Leben vor Gott schlecht dazustehen. Ausserdem kann die Mahnung vor gewissen Verhaltensweisen erst recht Ängste auslösen, in Gottes Augen nicht zu genügen. Was ich aber ebenfalls feststelle, ist das ungleich grössere soziale Unterstützungssystem, auf das gläubige Menschen im Un-terschied zu solchen ohne Glaubensbezug zählen können.
Wovor haben Sie selber Angst?
Ich muss gestehen, ich habe vor wenigem Angst (lacht). Meine grösste, ganz konkrete Angst ist, ins offene Meer hinauszuschwimmen. Auf der abstrakten Ebene sind es Erwartungen, die an einen gestellt werden, und die Unsicherheit, ob man sie erfüllen kann. Das hat vor allem früher Ängste in mir ausgelöst. Aber es waren immer bewältigbare Ängste – und jene vor dem Schwimmen im Meer lässt sich sehr einfach verhindern. Ich tue es einfach nicht und es ist kein Verlust. Darum geht es: sich die Welt so einzurichten, dass man mit seinen Ängsten umgehen kann, ohne dass sie das Leben einschränken.
Dieser Artikel erschien im Magazin INSIST.
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Autor: Daniela Baumann
Quelle: Magazin INSIST