Forscher oder Dieb?
Konstantin von Tischendorf und sein Bibelfund
Für die einen ist er ein Held. Die anderen nennen ihn einen Dieb. Die Rede ist von Konstantin von Tischendorf. Als junger Mann entdeckte er im ägyptischen Katharinenkloster die älteste erhaltene Handschrift der Bibel, den Codex Sinaiticus.
Viele halten Theologie und Bibelwissenschaft für trockene Angelegenheiten. Doch die Geschichte der Bibel hat sehr spannende und auch kontroverse Seiten. Eine davon ist die erfolgreiche Suche des Theologen Konstantin von Tischendorf (1815-74) nach alten Bibelhandschriften.Auf der Suche nach den Quellen
Tischendorf hatte in Leipzig Theologie studiert. Und dabei war er immer wieder mit der schwachen Quellenlage der Bibel konfrontiert worden. Martin Luther hatte zwar eine geniale deutsche Übersetzung geschaffen, doch die Texte, die er übersetzt hatte, stammten zum grössten Teil aus dem Mittelalter. Gaben sie die Originaltexte der Bibel gut wieder? Oder waren sie vielleicht verfälscht oder «angepasst» worden, als das Christentum unter Konstantin zur Staatsreligion wurde? Solche Fragen liessen dem jungen Theologen keine Ruhe. Bald nach seiner Promotion wurde er zum Professor habilitiert, heiratete – und ging auf Reisen.Tischendorfs erstes Ziel war Paris. Dort wurde der CodexEphraemi aufbewahrt. Die Handschrift enthielt Teile des Alten und Neuen Testaments. Das Problem dabei: die Handschrift war ein sogenannter Palimpsest. Der ursprüngliche Bibeltext darauf war ausradiert und mit einem anderen Text überschrieben worden. Und bis dahin konnte ihn noch niemand entschlüsseln. Tischendorf machte ihn mit chemischen Mitteln sichtbar und konnte ihn innerhalb von zwei Jahren entziffern.
Bereits während seiner Arbeit hatte er sich allerdings überlegt, dass die Wahrscheinlichkeit, wirklich alte Handschriften zu finden, im trockenen arabischen Wüstenklima sicher noch besser wäre. Also machte er sich 1844 auf die gefährliche Reise in den Orient. Sein Ziel war das älteste Kloster der Welt, das Katharinenkloster auf der ägyptischen Sinaihalbinsel. Neben seiner bekannten Bibliothek hatte dieses den Vorteil, dass es noch nie von den Stämmen in der Umgebung geplündert worden war.
Ausdauer führt zum Ziel
Auch hier im Kloster sah sich Tischendorf vor grossen Schwierigkeiten. Er konnte ja schlecht eine Art Hausdurchsuchungsbefehl vorlegen und die Gebäude auf den Kopf stellen. Also gewann er das Vertrauen der Mönche, arbeitete in der Bibliothek des Klosters und suchte dabei nach alten Bibelhandschriften. Er selbst erzählte, dass er dabei eines Tages Pergamente in einem Korb fand, die der Bibliothekar bereits zum Verbrennen zur Seite gestellt hatte. Tischendorf identifizierte sie als 129 Seiten des Alten Testaments – und sie waren älter als jede bisher bekannte Handschrift. Seine unverhohlene Begeisterung steigerte allerdings deren Preis, und so konnte er nach langer Verhandlung nur 43 der Seiten erwerben, die sonst verbrannt worden wären.
Trotz angestrengter Suche fand er jedoch keine weiteren Seiten. So reiste er zunächst wieder ab. 1853 kehrte er zurück und suchte weiter – erfolglos. 1859 stand er wieder vor den Toren des Katharinenklosters. Diesmal hatte er ein Empfehlungsschreiben des russischen Zaren an die griechisch-orthodoxen Mönche dabei. Doch auch diesmal suchte der Theologe umsonst. Am Abend vor seiner Abreise lud der Abt ihn zu einem Abschiedstrunk ein. Tischendorf zeigte ihm dabei sein Exemplar der Septuaginta – einer alten Übersetzung der Bibel ins Griechische. Daraufhin meinte der Abt, dass er so eine ähnliche Bibel besässe, in der er jeden Tag lesen würde. Er holte die Pergamente hervor – und Tischendorf sah direkt, dass er seinen gesuchten Codex vor sich hatte: ein komplettes Neues Testament und 199 Seiten des Alten Testaments, unter anderem die 86 Seiten, die er damals in der Bibliothek zurücklassen musste.
«Gerettete» Schätze
Er lieh sich die Schriften aus und las die ganze Nacht darin. Nach seiner Abreise begannen die Verhandlungen. Tischendorf konnte erreichen, dass man ihm die wertvollen Bibelpergamente in ein Kloster nach Kairo nachschickte. Er sollte sie als Leihgabe erhalten und kopieren. Doch sie gelangten nie wieder ins Katharinenkloster. Höchstwahrscheinlich schenkten die Mönche sie dem Zaren. Der Theologe kopierte sie und überbrachte sie später nach Russland. Der Zar zeichnete das Kloster aus und spendete den Mönchen einige tausend Rubel. 1933 schliesslich kauften die Briten den Sowjets den wertvollen Codex für 100'000 britische Pfund ab. Seitdem befindet er sich im Britischen Museum in London. Heute ist der Text des Codex Sinaiticus für Forschungszwecke online frei für jeden Interessenten verfügbar.
Etliches in der Erzählung von Tischendorf hat schon fast legendenhafte Züge. Warum sollten die Pergamente erst verfeuert werden, die der Abt anschliessend zum Bibellesen verwendete? Die meisten solcher Details beruhen ausschliesslich auf den eigenen Berichten des Theologen. Später wurde ihm sogar unterstellt, die geliehenen Seiten der Bibelhandschrift gestohlen zu haben. Tatsache ist jedoch, dass zu seinen Lebzeiten nie ein derartiger Vorwurf erhoben wurde. Im Gegenteil: als viel später von einem angeblichen Diebstahl die Rede war, präsentierte Russland sogar die verloren geglaubte Schenkungsurkunde. So ist die Schatzsuche Tischendorfs tatsächlich eine der spannenden Geschichten rund um die Bibel.
Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel
Ganz nebenbei schrieb der Codex Sinaiticus theologisch Geschichte. Einerseits konnten damit Hunderte von Details in den bisherigen Bibelübersetzungen korrigiert und ergänzt werden. Seine grössere Nähe zur biblischen Zeit und den originalen Handschriften machten und machen ihn bis heute zu einem wertvollen Dokument der Bibelforschung. Andererseits stellte der Fund aus dem 4. Jahrhundert nach Christus klar, dass es keine grossen inhaltlichen Verschiebungen im Alten und Neuen Testament der Bibel gegeben hatte. Tischendorf hatte sein Hauptanliegen erreicht: Die Bibel hatte sich als vertrauenswürdiger Text erwiesen.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet