Schweizerisches Weisses Kreuz

«Sexualaufklärung ist ein Bedürfnis!»

Das Schweizerische Weisse Kreuz bietet seit über zehn Jahren Schulen und Kirchgemeinden Unterstützung in der Sexualaufklärung an. Zwei Fachteams fördern die Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen rund um die Sexualität bei Jugendlichen, Kindern und deren Eltern. Das Bedürfnis nach Austausch mit externen Fachpersonen in geschlechtergetrennten Gruppen ist gross.

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Michael Recher und Daniela Grünig
Wie reagieren Menschen, wenn man sich als Sexualpädagogin oder als Sexualpädagogen vorstellt?
Michael Recher: Sich als sexualpädagogische Fachperson vorzustellen, ist schon etwas Besonderes. Der Wortteil «Sex» schafft eine spannende Stimmung. Wir erleben meist, dass unser Gegenüber gerne Näheres über unser Arbeitsgebiet erfahren möchte, teilweise aber auch eine unausgesprochene Bitte, nicht mit zu intimen Details rauszurücken. Diese Reaktionen entsprechen genau unserer Arbeit.
Daniela Grünig: Sexualität ist ein persönliches Thema, über das am besten in einem geschützten, respektvollen Rahmen gesprochen wird. Nicht selten ergeben sich aus der Vorstellung auch persönliche Gespräche. Sexualität ist ein Lebensthema. Nicht nur Jugendliche haben ungeklärte Fragen.

Welche Vorteile hat es, wenn die Sexualaufklärung von externen Fachpersonen durchgeführt wird?
Recher: Eine gute, sichere Atmosphäre zu schaffen, in welcher auch über Fragen gesprochen werden kann, die nicht nur «technischer» Natur sind, ist eine Herausforderung. Eltern möchten mit ihren Kindern offen und ehrlich über Sexualität reden, erleben dies aber oft als sehr schwierig. Als externe Fachpersonen haben wir den Vorteil, dass wir von den Kindern und Jugendlichen als neutrale Personen wahrgenommen werden. Wir sind durch unsere Arbeitserfahrung und unsere Ausbildung sensibilisiert, einen guten Rahmen zu schaffen, in welchem altersgerecht und in einem respektvollen Umgang auch emotionale Aspekte der Sexualität besprochen werden können. Junge Menschen sind oft gehemmt, mit nahen Vertrauten über persönliche Fragen zu reden, weil sie nicht enttäuschen und insbesondere den Eltern keine Sorgen bereiten möchten.
Grünig: Lehrpersonen werden entlastet, wenn sie wissen, dass die Schülerinnen und Schüler intime Inhalte und persönliche Fragen mit unabhängigen Fachpersonen besprechen können. Und sie sind dadurch vom Rollenkonflikt befreit, in den sie geraten können, wenn sie die sexualitätsbezogenen Themen zielgruppengerecht vermitteln möchten.

Wie reagieren Eltern, wenn sie darüber informiert werden, dass jemand vom Weissen Kreuz mit ihren Kindern arbeitet?
Grünig: Meistens sehr positiv. Wenn es möglich ist, führen wir vor unseren Klassenbesuchen an Schulen Elterninformationsveranstaltungen durch. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Eltern uns persönlich kennen lernen können. Daneben halten wir einen Vortrag über die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Recher: Praktisch immer erleben wir nach diesen Vorträgen entspannte Eltern. Das freut uns, weil wir glauben, dass sie dadurch auch mit ihren Kindern etwas entspannter in einen Austausch über sexuelle Themen kommen können. Sie fühlen sich unterstützt und ermutigt.

Ab welcher Stufe arbeiten Sie mit Schülerinnen und Schülern?
Recher: Wir arbeiten mit Kindern aller Altersstufen, bereits ab dem Kindergarten. Spannend finden wir, dass trotz der kontroversen Diskussionen in den Medien sehr viele Schulen den Wunsch haben, dass bereits mit den Jüngsten gearbeitet wird.

Welche Kriterien sind für Sie wichtig, wie gehen Sie bei den Einsätzen vor?
Grünig: Wir betonen sehr bewusst die positiven Aspekte der Sexualität. Es ist unser Wunsch, junge Menschen zu motivieren, verantwortungsbewusst mit sich, ihrer Sexualität und ihren Mitmenschen umzugehen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass sie eine bejahende Einstellung zum eigenen Körper annehmen und sich mit den schützenswerten und wertvollen Anteilen der Sexualität auseinandersetzen können. Der Umgang mit sich selbst und anderen soll von Respekt geprägt sein. Kinder und Jugendliche auf dem Weg zu dieser Haltung dürfen Fehler machen und lernen – und haben das Recht, dass man ohne Tabus offen auf ihre Fragen rund um die Sexualität eingeht und diese nicht bewertet. Wir belehren nicht und gehen entwicklungsgerecht auf die Themen ein, welche die Gruppen beschäftigen – oft in geschlechtergetrennten Gruppen.

Haben Schülerinnen und Schüler den Mut, im Klassenzimmer ihre Fragen auszusprechen?
Recher: Ja, den haben sie! Es ist ein grosses Bedürfnis, mit uns über die Themen Freundschaft, Verliebtheit und Liebe zu reden. Entgegen der Annahme vieler Erwachsener, wird darüber viel zu wenig geredet. Am häufigsten arbeiten wir in 4. bis 6. Klassen, weil Lehrpersonen in dieser Altersstufe viel Bedarf beobachten.
Grünig: Die Möglichkeit, pubertäre Veränderungen mit externen Fachpersonen in geschlechtergetrennten Gruppen zu besprechen, wird sehr geschätzt. Viele junge Menschen haben uns zudem mitgeteilt, dass sie über die Empfängnisverhütung oder den Schutz vor der Infektion mit Geschlechtskrankheiten viel lieber mit uns reden als mit Lehrpersonen oder Eltern. Vermutlich weil dies Themen sind, welche die eigene sexuelle Aktivität direkt betreffen.

Reagieren öffentliche Schulen kritisch auf die Tatsache, dass das Schweizerische Weisse Kreuz einen christlichen Hintergrund hat?
Grünig: Schulen, die uns engagieren, haben keine Schwierigkeiten mit unserem christlichen Hintergrund. Wir haben es schon wiederholt erlebt, dass sich Schulen bewusst für uns entschieden haben, weil sie davon ausgegangen sind, dass wir wertesensibel mit den Schülerinnen und Schülern arbeiten.

Neben der Tätigkeit an Schulen arbeiten Sie auch sexualpädagogisch in kirchlichen Gruppen. Wie erleben Sie das? Ist die Kirche für Jugendliche ein Ort, an dem sie sich gerne mit sexuellen Themen beschäftigen?
Recher: Das ist unterschiedlich. Grundsätzlich haben junge Menschen das Bedürfnis, über Sexualität zu reden. Es  kommt vor, dass Gruppen anfänglich verhalten auf uns reagieren.Etwa weil sie vermuten, dass wir mit ihnen über moralische Themen reden möchten, die in christlichen Gruppen regelmässig thematisiert werden. Oft kommt nach dem Anlass die Rückmeldung, dass es sehr gut angekommen ist, dass man offen über alles reden konnte. Genau so verstehen wir unsere Aufgabe.
Grünig: Es ist uns wichtig, dass junge Menschen die Möglichkeit erhalten, sexualethische Themen ganz ehrlich mit ihrem eigenen Erleben in Abgleich zu bringen und sich mit anderen in einem geschützten Rahmen darüber austauschen zu können. In einem solchen Rahmen haben Be- und Verurteilungen keinen Platz.

Bieten Kirchen genügend Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit sexuellen Themen für Jugendliche an?
Recher: Auch da gibt es Unterschiede. Wir ermutigen, zur Auseinandersetzung anzuregen. Oft bringt dieses Thema aber auch sehr grosse Spannungen mit sich. Schwierig ist es, wenn sexuelle Themen so vermittelt werden, dass sich Menschen danach als ungenügend fühlen, ein schlechtes Gewissen haben.
Grünig: Belebend ist es vor allem dann, wenn sich eine ganze Gemeinde dafür entscheidet, eine generationenübergreifende Auseinandersetzung zu führen. Wir unterstützen dann zum Beispiel mit Fachvorträgen oder Gruppencoachings.

Zur Person

Michael Recher (33) ist Sexualpadägoge SGS und Leiter Sexualpädagogik im Schweizerischen Weissen Kreuz, Theologe und Familienmann, Vater von drei Kleinkindern.

Daniela Grünig (45) arbeitete als Medizinische Praxisassistentin im Bereich Gynäkologie. Die Erwachsenenbildnerin ist heute beim Weissen Kreuz in der Elternarbeit und Sexualpädagogik tätig. Sie ist fünffache Mutter und freut sich über zwei Enkelkinder.

Reden Sie mit!

Das Schweizerische Weisse Kreuz führt eine Onlinebefragung durch, mit der die Bedürfnisse, Wünsche und Fragen von Jugendlichen, Leiterinnen und Leitern zusammengetragen werden sollen.

Zur Webseite:
Schweizerisches Weisses Kreuz

Zum Thema:
Sexualforscher: Markus Hoffmann: «Sexualität ist fluid und komplex»
Sexualaufklärung: Was die Eltern tun können – und was nicht 
Sexualerziehung: Das Kind – kein sexuelles Wesen?

Datum: 17.08.2017
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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