Dokumentation
Die Milizen geben auf
Das Hotel, in dem ich um 7.15 Uhr warte, ist trotz emsigem Treiben eine Oase der Ruhe. Ein paar Einheimische lesen scheinbar gelangweilt die Zeitung, halb schlaftrunkene Gäste checken aus, und das Personal des «Serena»-Hotels – eines der wenigen wirklich sicheren in der Stadt – wirbelt emsig seinen mannigfaltigen Geschäften nach. Die ausladenden schwarzen Ledercouchs und die Pflanzen schlucken die hausinterne Geräuschkulisse inmitten der erwachenden, rauhen Metropole Nairobi, diesem kriminellen Moloch, der auch nachts nie so ganz zur Ruhe kommt.
Schlechte Träume
Cindy kommt als erste und reisst mich putzmunter aus meinen Gedanken. Seit vier Uhr in der Früh habe sie nicht mehr schlafen können, bedauert die Amerikanerin. Gunnar Wiebalcks Schilderungen von den brutalen Sklavenüberfällen raubten ihr den Schlaf. In Gedanken sah sie unseren kleinen Trupp in die Hände der barbarischen Regierungsmilizen fallen.
Auch bei mir war der Schlaf nicht gut Freund: Ich sah unsere einmotorige Cessna völlig sinnlos an irgendeiner namenlosen Sanddüne im weiten südsudanesischen Niemandsland zerschellen. Immer wieder schoss die Düne unserer Propellermaschine entgegen und liess diese aufprallen. In verschiedenen Versen der Bibel, welche die Gideon-Bibelverteiler auch in dieses kenianische Hotel gebracht hatten, fand ich innere Ruhe. Oder war ich doch noch aufgedreht? Denn grinsend sang ich in meinen Gedanken das Gospel-Lied «Soon and very soon, we are going to see the king ... » ("Bald, sehr bald werden wir den König sehen … ").
Milizen geben auf
Vorerst haben wir keine Gelegenheit abzustürzen. Nachdem uns ein Kleinbus des Hotels zu Nairobis Inlandsflughafen gebracht hat – richtig, wie haben auf die verkehrstechnischen Nahkampf-Künste unseres gestrigen Chauffeurs samt seinem London-Taxi verzichtet – sollten wir erst 'mal festsitzen. Die unverständliche Bürokratie des Charterbüros zögerte unseren Inlandsflug Stunde um Stunde hinaus.
Gunnar Wiebalck unterrichtet mich über die Situation im Sudan. Die 500 freigelassenen Sklaven sind in Meiram, im Norden des Landes. Der Weg in die Freiheit wurde aber vorerst zum Horrortrip. Moslemische Milizen hielten sie fest und bedrohten sie. Länger als eine Woche schwebten diese jahrelang ausgebeuteten Menschen erneut im Ungewissen. «Doch nun, auf internationalen Druck, lässt man sie endgültig frei, und wir werden sie hier in Warawar empfangen.» Diese Marktstadt liegt im Südsudan, rund 100 Kilometer von Meiram entfernt. Leben werden wir in Mabil, in der Nähe von Warawar. Auch Mabil wurde in den späten Neunziger Jahren Opfer von Sklavenjägern.
Der Joker heisst Susi
Ebenso ungnädig wie ungebremst lässt der Minutenzeiger die Stunden zerrinnen. 10.15 Uhr, Gunnar Wiebalck beginnt zu rechnen. Klar ist, wenn wir nicht demnächst nach Lokichoggio im Nordwesten des Landes abheben würden, wären wir nicht vor 14 Uhr auf diesem Flughafen mitten in der Steppe, 20 Kilometer vom Sudan entfernt. Dann würde es nicht mehr für den Weiterflug reichen, denn dieser dauert mehrere Stunden und der Zielort Wanyiok, nahe bei Mabil, wäre nicht vor Einbruch der Nachterreichbar. Dort gibt es aber keinen Strom. Kein Strom heisst keine Pistenbeleuchtung, ergo keine Landung.
10.30 Uhr, John Eibner zieht den Joker. Dieser ist weiblich und heisst mit Vornamen Susi. Die gewandte Power- und CSI-Verbindungsfrau bucht kurzfristig einen Inlandlinienflug, einer ihrer Angestellten fährt uns zum anderen Flughafen und ein paar Minuten später hebt unsere zweistrahlige Fokker ab gen «Loki», wie man den Ort auch nennt.
Im Taumelbecher
Loki entpuppt sich als Charterflughafen, mit einem riesigen Sammelsurium an abenteuerlichen Gestalten. Die UNO hat hier ein heruntergekommenes Hilfsgüterlager. Alle paar Minuten donnert eine ihrer Herkules-Lastesel über die Piste und brummt schwerfällig in den heissen, stechendblauen kenianischen Nachmittagshimmel davon.
Fragen werden hier nicht viele gestellt. Wer hier ist, ist grundsätzlich kein Tourist, sondern in irgendeiner mehr oder weniger geheimen Mission unterwegs. Uganda, Äthiopien und sogar der Kongo sind von hier aus ebenfalls erreichbar.
Unsere einmotorige Cessna bietet zehn Passagieren und einer ansehnlichen Menge Hilfsgüter Platz. Gelenkt wird die Maschine von einem wuseligen, französischsprachigen Piloten, der beim Abheben über die Schulter blickt, nickt und zwinkert.
Cindys Pille
Er erweist sich als Tiefflieger, der die Maschine auf bloss Zweitausend Metern Höhe hält. So kommen wir besser in den Genuss ostafrikanischer Luftturbulenzen. Ob es an Cindys Pille – sie hat mir auch heute eine gefüttert – oder an der kurzen Nacht liegt, weiss ich nicht, Tatsache ist, dass ich den grössten Teil des Fluges schlafen kann.
Die Landung, die ich verschlafen miterlebe, verläuft tadellos. Pastoren und einheimische Verbindungsleute nehmen uns in Empfang. Es gibt hier keine Autos, keine Läden, keine Stromleitungen und dafür Ende Monat auch keine Stromrechnung. Und auch keine für das Wasser. Dieses pumpt man sich einfach aus einem Brunnen heraus. Dafür gibt es hier Buschhäuser, viele Kinder, Affenbrotbäume und ganz merkwürdige Vögel wie den Marabu. Das Leben findet vor allem draussen und in der Gemeinschaft statt. Der einzige Fastfood wächst auf Bäumen und ist gesünder als das, was bei uns in Westeuropa unter diesem Namen allgemein bekannt ist.
Ein äusserst schmackhafter Tee wird serviert und die nächsten Tage besprochen. Im Zentrum steht der Empfang von 500 Sklaven, welche auf Druck der Regierung freigekommen sind sowie das Buchprojekt für den Brunnen Verlag.
Panzer im Visier
In einem ebenso klapprigen wie heimeligen Bus fahren wir in die nächste Ortschaft – auf einer Piste, die in der Schweiz in dieser Kategorie unangefochtener Leader gewesen wäre, hier aber einfach eine gewöhnliche Strasse ist. Unterwegs, nach einer Biegung, machen wir plötzlich einen Panzer aus. «Now problems arrive», grinst Gunnar Wiebalck. Ich verweise auf mein Taschenmesser, und damit stellt sich bei mir das Gefühl ein, dass wir damit die Situation im Griff haben. Das beruhigt ungemein. Oder beruhigt bloss der Umstand, dass dieses gepanzerte Raupengefährt auf den ersten Blick eindeutig als aufgeriebenes Überbleibsel einer früheren Invasion zu erkennen ist?
In der ehemaligen Kornkammer
Kurz vor dem Einnachten schlagen wir unsere Zelte auf dem Campus von Dr. Luka auf (siehe Interview) „Meine Klinik begann unter einem Baum“ und „Ein Arzt im Bombenhagel“ danach gibt es unter dem sudanesischen Nachthimmel ein reichhaltiges Abendessen mit Reis, Gemüse, Fleisch und diesem sagenhaften Tee. Das Ganze quasi im Milliarden-Stern-Hotel. Drums, singende Kinder und ein paar jaulende Hunde sind später der Soundtrack zum Einschlafen.
Dass der Sudan zu den ärmsten Ländern der Welt gehört und dass hier im Süden eine Hungerkatastrophe wütet, hat nichts mit den hiesigen Einheimischen zu tun. Bevor der Norden die ethnische Säuberung anzettelte – die nun nach Jahrzehnten des Schweigens von der UNO halbherzig angeprangert wird – nannte man den Süden «die Kornkammer des Landes».
Lesen sie auch die Serie dazu:
1. Teil Ich war 15 Jahre lang eine Sklavin
2. Teil Meine Klinik begann unter einem Baum
3. Teil Ein Arzt im Bombenhagel
4. Teil Noch keine Skorpione
6. Teil Gefangen, verkauft, unterdrückt
7. Teil Um diese Zeit kommen manchmal die Bomber
8. Teil Hühner schreien zwischen den echten "Music Stars
9. Teil So wurde aus der Kornkammer ein Armenhaus
10. Teil Vier Kinder vom angetrauten Vergewaltiger
11. Teil Eine entvölkerte Schweiz, mitten im Sudan
12. Teil Die Sternstunde
13. Teil Der älteste Sohn der Familie vergewaltigte mich
14. Teil Nicht ohne meine Kinder
15. Teil Schweizer Hilfswerk macht Weltpolitik
16. Teil So wurde die UNO zum Regime-Komplizen
17. Teil Wir haben die Hand Khartums geführt
18. Teil Die USA und das gigantische Missverständnis
19. Teil Wir machen uns zu Komplizen
20. Teil Wie viele sterben noch in Darfur?
21. Teil Nothilfe Sudan
22. Teil Gegen die Hungerkatastrophe im Sudan ankämpfen
23. Teil Weihnachten im Hungergebiet
24. Teil Diesesmal kein Tränengas zu Weihnachten
25. Teil "Wir werden eure Männer und Söhne töten" - wie lange schaut die Welt den Gräueln in Darfur zu?
Webseite: www.csi-int.org
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch