Türkische Protestwelle
Die Unrast am Bosporus bedroht auch die Kirchen
Für die Christen in der Türkei ist der Protest gegen Erdogan eine zwiespältige Sache. Sie riskieren, zwischen die Fronten von Nationalisten und islamistischer Regierung zu geraten.
In der Türkei geht das Aufbegehren gegen ihre islamisch-konservative Regierung weiter. Von Istanbul und Izmir im Westen über die Hauptstadt Ankara bis in die südöstlichste Ecke von Hatay an der syrischen Grenze. Die Demonstrationen haben Ende Mai vordergründig als grüner Protest gegen die Zubetonierung des Istanbuler Ausflugsparks Gezi Parki begonnen. Sie richteten sich aber von Anfang an gezielt gegen das, was Ministerpräsident Erdogan dort hinbauen will: Einen ganzen Komplex im osmanischen Stil, gekrönt von einer mächtigen Moschee.Als Gegenpol zur christlichen Dreifaltigkeitskirche auf der anderen Seite des Taksim-Platzes soll so eine wieder islamisch bestimmte, aber auch Christen duldende Türkei suggeriert werden. Und das am Taksim, dem Vorzeigplatz für die areligiöse, doch umso nationalistischere Ideologie des Kemalismus. Genau dort hatte sich Kemal Atatürk 1922 zum Herren des alten Stambul gemacht und den letzten Sultan verjagt.
Erdogans Bauvorhaben vom Gezi-Park ist daher ein Schlag ins Gesicht all jener, die dem säkulären Programm des Europäisierers der Türkei weiter die Treue halten. Moderne Frauen vor allem, die sich dem heutigen Trend zu Kopftuch und unförmigen Mänteln widersetzen. So gaben bei den Kundgebungen von Anfang an Türkinnen in Jeans und T-Shirts mit freien Haaren den Ton an, keine einzige Kopftuchträgerin ist zu erblicken. Frauen und Männer kamen und kommen aus allen Schichten und politischen Richtungen, die sich gegen eine Re-Islamisierung der Türkei wehren: Von den revolutionären Linken bis zu rechtsradikalen Nationalisten.
Trotz der noch immer relativ kleinen Zahl der Aufbegehrer zeigen sich diese gut organisiert und zwischen den verschiedenen Orten des Protestes koordiniert, bis hin zu den Auslandstürken im deutschsprachigen Raum. Offensichtlich wird nach einem klug ausgeheckten Plan vorgegangen, zu dem sich die ausserparlamentarische türkische Linke mit den kemalistischen Oppositionsparteien zusammengefunden hat.
Bei all diesen Marschierern handelt es sich aber keineswegs um Freunde der türkischen Christen. Zwar haben Atatürk und seine Nachfolger versucht, den Glauben an Allah durch den Götzen eines türkischen Nationalismus, oft sogar Rassismus, zu ersetzen. Da jeder richtige Türke aber Muslim sein muss, blieb der Islam weiter eine Art türkische Staatsreligion. So sieht sich die zusammengeschmolzene Christenheit am Bosporus jetzt zwischen den Fronten der Nationalisten und einer Obrigkeit in der Zwickmühle, die ihr zwar Duldung, aber keine volle Religionsfreiheit verspricht.
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Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet