Beten für Veränderungen
Evangelische Christen in Libanon setzen auf Entkonfessionalisierung
«Libanon steht an der Kippe, die Lage ist brandgefährlich», sagt der im Mai 2018 als erster Evangelischer ins Beiruter Parlament gewählte Pastor Edgar Trabelsi. Daher beten evangelische Christen, während andere gemeinsam mit Muslimen demonstrieren und die Zusammenarbeit suchen.Als einziger unter 128 Abgeordneten – von ihnen nur vier Frauen – vertritt Edgar Trabelsi nach dem religiös-konfessionellen Verteilungssystem aller politischen Ämter die etwa 50'000 evangelischen Christen des mehrheitlich schiitischen, katholischen, sunnitischen und orthodoxen Landes. Der Sieger der Neuwahlen vom letzten Jahr, Grossunternehmer Sunnit Saad Hariri, hat die Versprechen seiner «Zukunftspartei» zur Entkonfessionalisierung der Politik, für billigere Grundnahrungsmittel und weniger Arbeitslosigkeit aber nicht einhalten können. Mitte Oktober riss der Bevölkerung der Geduldsfaden: Massive Unruhen zwangen Hariri zum Rücktritt, halten aber weiter in Beirut und anderen Städten an.
Beten für bessere politische Zukunft
«Wir Protestanten – vor allem sind wir Presbyterianer und Baptisten – gehen von einigen Studentinnen und Studenten abgesehen nicht auf die Strasse», sagt Trabelsi, Generalsektretär des Verbandes Evangelischer Kirchen in Libanon: «Wir beten um eine bessere Zukunft mit wirtschaftlichem Aufschwung, mehr sozialer Gerechtigkeit und der längst fälligen politischen Reform.»
Libanon schleppt die Dominanz von «Religionsvölkern» (millet) aus der erst 1918 beendeten osmanischen Zeit weiter. In Frage gestellt hatte diesen politischen Konfessionalismus schon im Herbst 2015 eine breite Protestwelle unter dem Motto «Es stinkt!». Sie wurde von nicht beseitigten Abfallbergen in Beirut und anderen Städten ausgelöst. Zum Himmel stänken aber erst recht Korruption und Misswirtschaft des von einer Handvoll Politikerclans beherrschten öffentlichen Lebens. Um diesen Aufruhr zu beenden, wurde das Wahlrecht geändert. Es sollte ausser den Religionsgemeinschaften auch ideologisch-politischen Gruppen den Einzug ins Parlament ermöglichen. Dort errangen die Reformkräfte einschliesslich der Evangelischen 2018 aber nur eine Handvoll Sitze, sonst blieb alles beim Alten.
1,5 Millionen Flüchtlinge fordern Politik heraus
Trabelsi fährt fort: «Einst war Libanon mit seinen Banken, Handelshäusern und Luxushotels als Schweiz des Nahen Ostens berühmt. Sogar von den langen Wirren der Jahre 1975 bis 1990 konnte sich das Land nochmals erholen. Die jetzige Krise kam vom syrischen Bürgerkrieg. Zwar konnten Versuche islamischer Terrormilizen, auch in Libanon Fuss zu fassen, abgewehrt werden. Doch blieben ab 2011 Touristen und Investitionen wegen der gefährlichen Nachbarschaft aus, dafür kamen eineinhalb Millionen Flüchtlinge. Das ist ein Viertel der libanesischen Bevölkerung. Diese Menschen müssen seit Jahren mitversorgt werden.»
Für den Präsidenten der Evangelischen Nationalsynode von Syrien und Libanon, Pastor Fadl Dagher, richtete sich der Unmut aber nicht wie in Europa unter ausländerfeindlichen Parolen gegen die Menschen aus Syrien, sondern gegen die Beiruter Führung: «Die ist nicht einmal mehr imstande, die eigenen Bürgerinnen und Bürger durchzufüttern.»
Christen und Muslime gemeinsam
Zehn Kilometer östlich der Stadt, im Bergland von Metn, liegt auf einem Hügel das «Arabische Theologische Seminar» der Baptisten. Sie sind die wichtigste der libanesischen Freikirchen, seit sich ihr «Apostel», der ehemalige Muslim Said Jureidini, 1893 in St, Louis/Missouri taufen liess und seinen neuen Glauben an Jesus zurück in die Heimat brachte. Vom Seminar in Mansouriyeh aus lässt sich der Aufruhr und die ganze Lage gut überblicken.
Martin Accad ist Professor für christlich-islamische Beziehungen. Er stellt fest: «Bei diesen Kundgebungen demonstrieren Christen und Muslime zum ersten Mal in Libanon gemeinsam. Als einziges noch weitgehend christliches Land im Orient lässt sich Libanon aber nicht länger durch starren religiösen Proporz retten. Wir brauchen gemeinsame soziale Friedensarbeit mit jenen Muslimen, die dazu bereit sind!»
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Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet