Flucht aus Nordkorea
Die Zehn Gebote führten sie zu Gott
Wegen eines Fluchtversuches fanden sich Kim und ihr Mann im Gefängnis in Nordkorea wieder. Kurz vor dem drohenden Hungertod wurde sie entlassen, ihr Mann überlebte nicht. Doch die Lage im Land trieb sie erneut zur lebensgefährlichen Flucht. Wir unterhielten uns mit Kim über ihre Erlebnisse, aus Sicherheitsgründen wurde ihr Name geändert.
Beinahe im Gefängnis verhungert
Kim heiratete und wurde Mutter dreier Kinder. Jahre später wurde das Land von einer Hungersnot heimgesucht. Die Familie versuchte, aus dem Land zu fliehen, wurde aber erwischt und in ein Gefängnis gesteckt. Die Bedingungen waren hart, regelmässig kamen Menschen ums Leben. Kims Mann starb hinter Gittern den Hungertod. Auch Kim war dem Tode nahe, als sie entlassen wurde, weil ihre Strafe verbüsst war. Erneut versuchte sie zu fliehen, diesmal konnte sie entkommen. Nach einigen Jahren in einem Schutzhaus in China versteckt, gelangte sie nach Thailand, wo sie auf der südkoreanischen Botschaft um Asyl bat. Heute lebt sie in Südkorea, auch ihren Kindern ist die Flucht gelungen. Kim besuchte die Schweiz anlässlich des 60-Jahre-Jubiläums von Open Doors.
Livenet: Kim, was erlebten Sie im Gefängnis?
Kim: Ich war sechs Monate im Gefängnislager. Dort besitzt man nicht mehr als das, was man anhat. Es gibt keine Utensilien zum Waschen: Während sechs Monaten hatte ich kein Bett, keine Waschseife und auch nichts zum Umziehen. Eine Frau wurde ohne Narkose an der Brust operiert, vor Schmerz änderte sich ihre Gesichtsfarbe völlig. Sie war wohl von einem kleinen Insekt gebissen worden und weil es nicht behandelt wurde, war die Wunde vereitert. Wenn man erkrankte, wurde man nicht behandelt. Ich habe später gesehen, wie die Gefängnisse in Südkorea sind – im Vergleich dazu sind das Hotels. In jenen in Nordkorea lebte man schlechter als in einem Tierstall.
Es herrschte auch eine grosse Hungersnot. Was bedeutete das im Gefängnis?
Zum koreanischen Essen gehört Reis und verschiedene Beilagen. Reis konnte man aber ebenso wie die Beilagen vergessen. Was man im Herbst bekam, war Rettich und Chinakohl. Das grüne Zeug hat man einfach im Wasser gekocht. In den anderen Jahreszeiten gab es Mais. Aber nur die Haut, die abgepellt wird, den inneren Teil, den Kolben selbst, erhielten wir nicht. Man sagte uns, die Tiere würden das nicht essen, weil ihnen das Bewusstsein fehle, dass sie sonst sterben würden. Wir Menschen wissen, dass man überleben muss. Und so assen wir das, was Tiere übrig liessen...
Sie haben überlebt, wie ist das gelungen?
Mit meinem Sohn kam ich aus dem Gefängnis und wir wurden zwangsweise in ein anderes Dorf umgesiedelt. Unser Nachbar, ein älterer Herr, sah uns. Unsere Situation war sehr schlimm. Er riet uns, nach China zu fliehen und vermittelte uns einen Kontakt. Ich lernte eine Frau kennen, die ihre beiden Töchter bereits nach China geschickt hatte, damit sie dort wenigstens überleben können. Das war der Mutterinstinkt, sie wollte ihre Kinder in Sicherheit wissen und sie später in China suchen. Vier Monate lang war sie in China, während ihr Mann und ihr Sohn in Nordkorea blieben. Dann kam sie wieder zurück und man sah ihr an, dass sie im Ausland gewesen war: Sie war gut ernährt, während die Nordkoreaner wie Skelette aussahen. Sie musste sich im Haus verstecken, damit niemand sie so wohlgenährt sah und Verdacht schöpfte. Wir wurden einander vorgestellt, weil ich mich entschlossen hatte, ebenfalls zu gehen.
Wie verlief die Flucht?
Es geschah im Januar, dann ist der Fluss Tumen zugefroren. Es gibt eine chinesische und nordkoreanische Strasse. Weil die Nordkoreaner keine Autos haben, ist jene auf der nordkoreanischen Seite leer. Die Frau, die schon «drüben» gewesen war, sagte: «Halte dich an mir fest, ich sage dir, was du tun musst.» So gingen wir wie Fussgänger die Strasse entlang. Dann kamen zwei bewaffnete Grenzbeamte, die aber an uns vorbeigingen – wir wirkten nicht verdächtig. Nach einiger Zeit, zog mich die Frau an der Hand und sagte: «Jetzt renn so schnell du kannst!» Und wir rannten über den zugefrorenen Fluss. Das war abends um 21.30 Uhr, es war schon dunkel. Auf der chinesischen Seite angelangt, versteckten wir uns unter hinter einem Baum. Plötzlich spürte ich etwas Warmes unter der Nase und wischte es weg. Im Mondlicht sah ich, dass es Blut war. Ich hatte so unter Druck gestanden, dass ich Nasenbluten bekommen hatte. Meine Begleiterin kannte eine Frau in der Gegend und wir kamen schliesslich zu ihr.
In Nordkorea sagt man, dass es keinen Gott gibt – Sie sagen heute, dass es einen gibt. Wie ist es dazu gekommen?
Kurz gesagt: Es ist Gottes Gnade, dass ich heute an Jesus Christus glaube. In Nordkorea lebt man mit vielen Lügen, es herrscht viel Zwang. Man muss an Kim Il-Sung glauben und an all diese Dogmen, die allesamt Lügen sind. Es ist schrecklich, man wird davon überschwemmt. Wenn man das erlebt hat, möchte man am liebsten alles vergessen, was man dort erlebt hat und jegliche Verbindung zu Nordkorea abbrechen.
Doch die Zehn Gebote haben mich sehr berührt, besonders, dass man seine Eltern ehren soll, dass man nicht töten soll und nicht falsch Zeugnis ablegen soll, all diese Dinge, die in Nordkorea verpönt sind. Man darf in Nordkorea niemanden ehren, auch die Eltern nicht, das haben wir nie gelernt. Deshalb wurde ich zutiefst angesprochen, als ich las, dass man die Eltern ehren, keinen Mord begehen und nicht lügen soll. Dieser Moment, in dem ich das las, war für mich ausschlaggebend. Die Zehn Gebote führten mich zu Christus. Durch sie und durch alles, was ich in der Bibel las, erkannte ich, dass er die Wahrheit ist, an die auch ich mich halten kann.
Durch die Zehn Gebote fanden Sie zu Gott?
Ja! Wenn ein Mensch in einer tiefen, dunklen, unsicheren schicksalserschlagenen Situation steckt, ist es der menschliche Instinkt, nach Gott zu suchen, nach einer höheren Macht, an die man sich halten kann. Das steckt in jedem Menschen drin. Wer in dieser Bedrängnis gelebt hat, weiss, dass tief im Inneren ein Verlangen nach Gott existiert. Beispielsweise meine Begleiterin: Sie hatte ihre beiden Kinder nach China geschickt, wusste aber nicht, wo sie waren und hatte grosse Angst, dass sie zurückdeportiert würden. In solchen Situationen hält man an einem Gott fest – Er war ihr letzter Halt!
Was wünschen Sie sich für Nordkorea?
Wir brauchen eine Wiedervereinigung! 2006 kam ich in Südkorea an und erschrak, dass über diese Wiedervereinigung diskutiert wurde. Das machte mich wütend: Das ist kein Thema, über das man diskutieren muss – es ist ein Volk. Man diskutiert beispielsweise viel über die Kosten. Sicher, Nordkorea ist sehr arm, aber es hat im Gegensatz zu Südkorea viele natürliche Ressourcen. Diese braucht Südkorea, da es an die Grenzen seines Erfolges stösst. Wie weit er sich noch fortsetzen lässt, hängt damit zusammen, ob die Ressourcen Nordkoreas eingesetzt werden. Und in Nordkorea leben viele Menschen, die mit Lügen aufwachsen; für sie ist es wichtig zu hören, dass Gott die Wahrheit ist. Und die vielen jungen Leute in Nordkorea, die heute keine Zukunftsaussichten
haben, würden eingesetzt werden und sich gebraucht fühlen. Es gibt keinen Ausdruck, der die Lage in Nordkorea beschreiben könnte... Ich wünsche mir, dass ich noch erleben darf, dass Nord- und Südkorea sich wiedervereinigen und die beiden Völker in Frieden zusammen leben.
Zum Thema:
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch