Umbruch in der arabischen Welt
«Die Menschen sind desillusioniert – und stellen Fragen»
Man glaubt es kaum: der «arabische Frühling» ist erst fünf Jahre alt.
Auch wenn es wieder nach Wintereinbruch aussieht – die arabische Welt
ist unbestreitbar im Umbruch. Was sind die Hintergründe? Was geht unter
den Menschen vor? Wir sprachen mit M. Schwab, einem profunden Kenner der
arabischen Welt. Er ist Projektleiter Naher Osten beim Hilfswerk HMK Hilfe für Mensch und Kirche und hat viele Jahre in verschiedenen
arabischen Ländern gelebt.
Livenet: Wo sind heute Schwerpunkte von Gottes Handeln in arabischen Ländern?
M. Schwab: Grundsätzlich ist Gott im ganzen arabischen Raum am Werk. Da, wo die arabische Bevölkerung am meisten leidet, erleben wir ein grosses Fragen nach Gott, Zweifeln an der eigenen Religion und Tradition, an Strukturen und Führern. Eine grosse Desillusionierung bricht sich Bahn, die Menschen suchen nach Alternativen. Die Frage ist verbreitet: Wo ist Gott? In Nordafrika, aber auch in den Golfstaaten – einschliesslich Saudi-Arabien, dem restriktivsten Land – haben wir eine grosse Masse an vorwiegend jungen Menschen und Intellektuellen, die aufbegehren gegen das System. Viele werden Atheisten – andere suchen in anderen Religionen.
Man muss sich das vor Augen führen: Die Hälfte der Bevölkerung im gesamten arabischen Raum ist unter 20 Jahre alt. Sie haben keinen Anteil an Führungspositionen und Entscheidungen. Viele sind arbeitslos, sie werden mit Benefiz abgespeist, bekommen vielleicht eine Wohnung und ein Handy – werden aber nicht an sinnvollen Prozessen beteiligt. Darum sind Millionen desillusioniert. Viele studieren, weil kein Arbeitsplatz für sie vorhanden – das Studium als reine Beschäftigungstherapie. Bei Jugendlichen ist darum ein riesiges Sinnvakuum da; die politischen Führer sind alles alte Herren, darum brechen die Jungen aus. Entweder werden sie für den Dschihadismus instrumentalisiert, oder sie suchen andere Sinn-Inhalte.
Suchen sie auch im christlichen Glauben?
Ja, viele liebäugeln mit dem Christentum, das für viele die attraktivste Alternative ist. In den frühen Suren des Koran werden die Christen ja durchaus positiv dargestellt, beispielsweise Sure 5,83: «Unter allen Menschen werden die Christen eure besten Freunde sein, denn sie haben Mitleid». Die späteren und damit die theologisch gültigen Suren allerdings sind sehr gegen Christen gerichtet. Hier wird der Hass verbreitet, der in vielen Moscheen aufgenommen wird.
Aber das dumpfe Wissen ist unter Muslimen verbreitet: «Christen haben Mitleid». Man weiss, dass die Christen von Barmherzigkeit motiviert sind. Das wissen übrigens auch Flüchtlinge; sie fliehen lieber in Länder, in denen ihnen Barmherzigkeit und Mitleid entgegenkommt, als in muslimische Länder.
Wenn Muslime fragen und zweifeln und am christlichen Glauben interessiert sind, was können sie tun?
Jahrhundertelang hatten sich die christlichen Minderheiten in Ländern wie Syrien, Jordanien, Ägypten, dem Irak oder Palästina – die es ja seit Jahrhunderten gibt – arrangiert und praktisch nicht missioniert. Seit dem arabischen Frühling hat sich die Lage aber geändert. Zuerst kamen die Medien. Al Hayat TV («Das Leben») spielt hier eine grosse Rolle: Zum ersten Mal werden Muslime im ganzen arabischen Raum herausgefordert, geistliche Fragen zu stellen. Der Sender spricht die Sprache der Muslime, geht Fragen an, die die Massen bewegen, und hat das Tabu gebrochen, dass man keine kritischen Fragen an Gesellschaft und Religion stellen darf. Je brutaler beispielsweise heute der IS auftritt, um so mehr zweifeln die Menschen. Sie suchen im Internet und im Satelliten-TV nach Antworten. Vorher waren Fragen einfach nicht erlaubt. Allah kritisiert man nicht. Diese Kritikunfähigkeit wurde von den christlich-arabischen Sendungen aufgebrochen, genau wie Al-Jazeera es im politischen Bereich macht. Immer wenn ich in diesen Jahren in arabischen Ländern war, merkte ich: Auf der Strasse wurde nur Al-Jazeera und Al-Hayat geschaut.
Welche Kanäle nutzen Muslime im arabischen Raum, um Jesus zu finden?
Es gibt etwa 20 christliche arabische Sender, davon vier oder fünf grosse. Das Fernsehen, aber auch das Internet und Facebook haben zur Folge, dass in der ganzen arabischen Welt jeder, der es sucht, auf christliche Inhalte stossen kann. Die jungen Leute suchen den Glauben also aktiv im Netz. Es gibt Chat-Räume, etwa von einem irakischen Christen, dem sie alle Fragen über Jesus stellen können. Man kann die Bibel downloaden. In den sozialen Medien sind Fragen über den Glauben in den Top 10 vertreten. Die Jugend wächst mit diesen Medien auf.
Dazu kommt ein Phänomen, dass viele Muslime Jesus-Visionen haben. Ich selbst habe mit mehr als zehn Leuten geredet, die nie mit Christen zu tun hatten, aber plötzlich eine Vision von Jesus hatten. Sie sahen einen Mann in einem weissen, hellen Gewand; sie wussten einfach, dass es Jesus war.
Viele Muslime kommen nun zu uns. Was können wir tun?
Ich glaube, wir haben ein Zeitfenster von einem halben Jahr, bis der Kulturschock kommt. Die jungen Männer brauchen Männer, die ihnen Begleitung und Freundschaft anbieten – Sport, Vorbild, sinnvolles Engagement. Frauen brauchen Frauen und Familien, Kaffeetrinken: einfache menschliche Zuwendung. Wir müssen freundlich bleiben und Zuneigung zeigen, auch wenn Kritik und harte Fragen kommen.
Viele wurden in Abwehrhaltung gegen Christen geschult – wir müssen dahinterschauen. Wir brauchen das transkulturelle Knowhow, das Missionare oder Diplomaten entwickelt haben. Mut, Offenheit, keine Angst – gepaart mit beständiger Freundlichkeit und Liebe. So können wir verhindern, dass hier bei uns im Westen Muslime zu Fundamentalisten werden, weil sie den Kulturschock nicht überwunden haben.
Webseite:
HMK Hilfe für Mensch und Kirche
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet.ch