Vision für die Schweiz
«…aber die Religion kann nie Privatsache sein»
Religion ist eine ganz persönliche Sache, aber sie kann nie Privatsache sein. Das betonte Bischof Felix Gmür an der jährlichen Besinnung «Vision für die Schweiz» in Bern. In einem Grusswort forderte Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey dazu auf, die Spielregeln des Dialogs und der Demokratie zu beachten.
Sie sitzen wie auf Nadeln an diesem Mittwochmittag in der letzten Sessionswoche: CVP-Nationalrat Pius Segmüller als Präsident von «Vision für die Schweiz - Eidgenössische Besinnung» und Bundeshaus-Beter Beat Christen als dessen rechte Hand. Sitzungen und Besprechungen verschiedenster Art nehmen die National- und Ständeräte in Beschlag. Schliesslich kommen 60 Verantwortungsträger aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kirchen ins geschichtsträchtige Hotel «Zum äusseren Stand». «Ist Religion reine Privatsache?» lautet das Thema.
«Liebet eure Feinde...»
Die Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen liest zum Auftakt Verse aus der Bergpredigt (Die Bibel, Lukasevangelium, Kapitel 6, Verse 27-36): «Euch aber, die ihr auf mich hört, sage ich: Liebet eure Feinde. Tut Gutes denen, die euch hassen...» Dann spricht sie ein Tischgebet:
«Gott, in der Mitte des Tages danke ich für Deine Gaben, ich danke für die Inspiration durch Deinen Geist, und ich danke für Deine grosse Güte. Wir bitten Dich um gute Gemeinschaft, um das Vertrauen auf Verständnis der Anderen und um die Kraft für unsere Kirchen - evangelisch, katholisch, freikirchlich. Gott, mach mich offen für neue Gedanken, lass mich die Hürden überwinden, die ich selbst oder andere mir stellen, auf dass ich zur Lösung gesellschaftlicher Fragen beitrage. Gib uns Friedfertigkeit, die Konflikte beendet. Gib uns Barmherzigkeit, die den Hass auslöscht. Gib uns Vergebung, die stärker ist als jede Rachsucht. Bestärke alle, nach Deinem Gesetz der Liebe zu leben. Wir danken, dass Du uns Zeit gibst - unser Leben. Für uns selbst, aber vor allem für die Anderen. Amen.»
Gruss der Bundespräsidentin
Und sie kommt doch nicht: Die im Programm angekündigte Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey entschuldigt sich wegen anderer Verpflichtungen, schickt aber ein Grusswort. Darin stellt sie fest, die religiöse Dimension des Lebens werde heute gerne zur Privatsphäre erklärt. Leicht lasse sich aber feststellen, dass das Religiöse im öffentlichen Leben und in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle spiele.
Die Religion präge wesentlich das menschliche Gewissen. Sie leiste einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Menschenwürde und zur Bekämpfung der Armut. Doch in der globalisierten Welt gebe es nicht mehr nur eine Kirche im Dorf. Wir müssten lernen, mit einer Vielzahl von religiösen Überzeugungen und Werten zu leben. Es gelte, neue Formen des Zusammenlebens zu finden und einzuüben.
Der Pluralismus der Lebensweisen und Wertvorstellungen müsse akzeptiert werden. Gefragt seien Geduld, Dialogbereitschaft und der feste gemeinsame Wille, uns auf das zu konzentrieren, was uns verbindet. «Denn woran wir hängen und festhalten wollen, das ist eine politische Kultur, das sind die Spielregeln des Dialogs und der Demokratie, Spielregeln, die unabhängig von der Religion gelten, die aber offen sind für alle Religionen und Glaubensrichtungen - auch für die Menschen, die offen bekennen, nicht zu glauben.»
Unsere Demokratie könne dann lebendig bleiben, wenn wir klare Überzeugungen und Visionen hätten.
Von der Religion geprägt
Zwischen Pouletgeschnetzeltem mit Spätzli und Zwetschgen-Joghurtcreme spricht Bischof Felix Gmür, der sich bewusst auch als Staatsbürger versteht. Er stellt fest, dass Religion heute strikt zur Privatsache erklärt wird. Das treffe insofern zu, als der Glaube auf einem persönlichen Entscheid und einem persönlichen Bekenntnis beruhe. In dieser persönlichen Frage habe der Staat nichts zu suchen.
Der Begriff «Privatsache» werde darum besser durch «persönliche Angelegenheit» ersetzt. Die vielfach als Forderung verstandene Aussage «Religion ist Privatsache» sei jedenfalls «schlicht falsch».
Wäre dem so, müsste nicht über eine Minarettverbots-Initiative abgestimmt werden. Unsere Kultur, nicht zuletzt Musik und Literatur, sei wesentlich von der Religion geprägt worden. In der Schule, der Erziehung und den Medien werde Religion zur öffentlichen Angelegenheit. Für Bischof Gmür ist deshalb klar: «Religion ist persönlich, nicht privat. Religion ist nicht staatlich, aber öffentlich.»
Die Suche nach Gott
Bischof Gmür sieht ein wesentliches Merkmal einer jeden Religion darin, dass sie den Menschen mit den Grundfragen seiner Existenz konfrontiert: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens?
Die Kirche unterstütze und begleite den Menschen bei der Sinnsuche, der Orientierungssuche, der Wahrheitssuche, letztlich bei der Suche nach Gott. Und sie vermittle ihm die Perspektive des Heils. Ins öffentliche Bewusstsein drang die Religion nach Ansicht des Bischofs erst wieder richtig nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Auslöser waren die stark in den Fokus gerückten Muslime.
Jetzt zeigten sich die Verknüpfungen von Religion und Politik deutlicher. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch zahlreiche Migranten, deren Religion keine Aufklärung kennt. Ihre religiöse Botschaft trage auch einen politischen Kern in sich.
Kirche soll Partei sein
Kann und soll die Kirche politische Ziele verfolgen? Bischof Gmür erinnert ans 18. Kapitel im Johannesevangelium: «Die Kirche als eine Gesellschaft eigener Art ist in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt.» Die Herrschaft Gottes breche mit Jesus in dieser Welt an, doch sie sei nicht vollendet. Die politische Herrschaft hingegen sei in und von dieser Welt. Die Kirche hat sich laut Bischof Gmür nun mit der Frage zu beschäftigen, wie sie den staatlichen Institutionen und Obrigkeiten begegnen soll.
Der Bischof versteht es als Auftrag der Kirche, sich mit dem politischen Geschehen zu beschäftigen. Er hält es mit Karl Barth, wenn er meint, Kirche habe nicht Partei zu ergreifen, aber Partei zu sein: «Die Kirche kann sich nicht neutral verhalten. Sie hat sich immer einzumischen durch Zustimmung, durch Ablehnung, auch durch Ermunterung. Auch wenn die Kirche schweigt, nimmt sie Stellung - immer.»
Der Staat ginge zu weit, wenn er fordern würde, die Kirche habe sich nur noch in der Sakristei zu engagieren. Will der Staat dem Bürger glauben machen, aller Nutzen hänge von seinem Wirken ab, so setze er sich an die Stelle der Kirche. «Das aber», so der Bischof, «gereicht dem Menschen nicht zum Wohl.»
Zu bedenken sei auch, dass der Staat auf Grundlagen beruhe, die er selbst nicht garantieren kann. Der Staat habe das Wohl des Menschen darum in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Insofern müsse er akzeptieren, dass Religionsgemeinschaften nicht immer einfache Diskussionspartner seien.
Die Freiheit nutzen
Die Kirche habe immer wieder die Werte ins Bewusstsein zu bringen, die sich Volk und Stände selber in der Präambel der Bundesverfassung gegeben haben. Auf der Grundlage dieser Werte bleibe die Kirche ein berechenbarer und verlässlicher Partner.
Der Staat habe die Ausdrucksfreiheit der Kirche zu respektieren. Die Kirche ihrerseits habe diese Freiheit zu nutzen, indem ihre Botschaft persönlich und öffentlich bezeugt wird und indem sie den Menschen Antworten auf die wichtigen Fragen unserer Zeit bietet.
Bischof Gmür abschliessend: «Niemand darf von den Kirchen zu etwas gezwungen werden, aber es darf auch niemand am persönlichen Bekenntnis gehindert werden. Im offenen Staat bleibt die Religion eine persönliche Sache, aber sie kann nie Privatsache sein.»
Der Zuspruch
Pfarrer Alfred Aeppli, mitverantwortlich für die wöchentlichen Besinnungen im Bundeshaus, spricht abschliessend ein Segenswort an die versammelten Verantwortungsträger, speziell aber an jene Parlamentsmitglieder, die gehen werden, an jene, die bleiben werden, und an jene, die neu ankommen werden:
«Gottes Kraft stärke dir den Rücken, und sein Wort spreche dich an. Gottes Auge schaue für dich, und sein Ohr höre dich. Gottes Weisheit leite dich, und sein Weg tue sich vor dir auf. Gottes Hand bewahre dich vor allem Bösen, und sein Geist erfülle dein Herz mit Frieden. So segne dich Gott der Allmächtige und Barmherzige, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.»
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Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaschweiz