Andres Gerber vom FC Thun
Gespräch über Werte und Hoffnungen nach dem Abstieg
Nach dem Abstieg des FC Thun in die Challenge League im Sommer 2020 hat Andres Gerber die Verantwortung des Fussballklubs übernommen. Auf ihm ruhen nun viele Hoffnungen. Wie geht der ehemalige Profifussballer mit dieser Rolle um und was gibt ihm selbst Hoffnung und Halt im Leben? Jesus.ch-Chefredaktor Florian Wüthrich traf ihn zum Gespräch in der Stockhorn Arena.
Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, in diesem Umfeld ein Gespräch zu führen. Das ist nicht selbstverständlich?Andres Gerber: Solche Gespräche sind für mich auch spannend. Ich will grundsätzlich mit einer offenen und lernbereiten Haltung durchs Leben gehen. Fussball ist nur ein Teil des Lebens. Von daher finde ich es auch eine gute Gelegenheit, damit zu signalisieren, dass im Leben auch andere Dinge als Sieg, Niederlage, Tabelle und Transfers zählen. Es hängt alles miteinander zusammen. Auch ich als Person möchte nicht nur aufs Fussballbusiness reduziert werden.
Wir müssen aber leider doch mit dem
Fussballbusiness einsteigen: Am 10.
August war dieser harte Moment, als
der Abstieg des FC Thun feststand.
Wie haben Sie diese Enttäuschung
verarbeitet?
Das war aussergewöhnlich: Als
der Schiedsrichter abpfiff, durchströmte mich eine Kraft und ich konnte sofort nach vorne schauen. Ich war selbst erstaunt, wie
das emotional bei mir ablief.
Während für einige eine Welt zusammenbrach, spürte ich eher
ein Verantwortungsgefühl oder
ein Pflichtbewusstsein, allein
schon dadurch, dass ich 17 Jahre
beim FC Thun dabei bin. Ehrlich
gesagt hatte ich auch etwas Angst,
dass jetzt vieles im Klub in sich
zusammenbrechen könnte. Da
sagte ich mir: «Nein, jetzt lassen
wir uns nicht kaputtmachen! Wir
bleiben stolz, auch wenn wir jetzt
im Moment vielleicht als Versager dastehen.» Alles in allem spürte ich, dass dies der Moment war, in dem ich hinstehen musste, um
den Menschen wieder Hoffnung
zu geben. Menschen brauchen
auch ein Gesicht und einen Halt.
Wurde der Umgang mit dem Scheitern auch im Team und mit dem Staff
offen thematisiert oder hat sich da
jeder selbst einen Weg aus dem Loch
gesucht?
Das war tatsächlich sehr individuell. Einige Spieler haben geweint,
auch die Fans waren natürlich traurig. Das zeigt die
Bedeutung, die der FC Thun hat –
und dies nicht nur regional. Wir
erhielten aus der ganzen Schweiz
viele Sympathiebekundungen. Auch von Seiten Sponsoren erhielten wir kein
einziges kritisches Feedback. Es gibt viele Menschen, die Freude haben
am FC Thun. Wir sind mit unserem kleinen Budget immer wie
die Gallier, die sich gegen übermächtige Konkurrenten wehren
müssen. Das ist eigentlich eine
mega schöne Rolle. Umso mehr
geht es jetzt darum, im gleichen
Stil weiterzuarbeiten. Wir sind
immer noch der FC Thun. Auch
wenn jetzt andere Gegner kommen, wird in der Stockhorn Arena weiterhin
Fussball auf ansprechendem Niveau gespielt. Von
daher ist ein Abstieg auch eine gute Lebensschule. Man lernt schätzen,
dass es den FC Thun überhaupt noch gibt.
Heisst das mit anderen Worten, dass
der Abstieg für Sie auch eine gewisse Logik hatte?
Ganz nüchtern betrachtet, müssen wir es uns als FC Thun auch
mal erlauben können, abzusteigen. Da sehe ich mich fast ein
bisschen als Missionar. Ich habe
Mühe mit diesem Wertesystem, das einem sagen will, man sei
nichts wert, wenn man mal verliert oder scheitert. Dieses ungesunde Leistungsdenken geben
wir auch unseren Kindern weiter: Wenn du versagt hast, dann
bist du schlecht und es ist okay,
wenn dich alle kritisieren und
auspfeifen. Dagegen wehre ich
mich! Von daher ist jetzt ein guter Moment, den Leuten bewusst
zu machen, dass sie nicht besser
oder schlechter sind, wenn sie in
der Super League oder Challenge
League spielen. Am Schluss ist es
immer noch ein Ballspiel mit 22
Spielern. Man muss daraus nicht
eine todernste Sache machen,
auch wenn es um viel Geld geht.
Das sind Worte, die man nicht so oft
hört von einem Verantwortungsträger im Fussballgeschäft...
Vieles ist nur eine Frage der Haltung. In der Challenge League
spielen wir gegen andere Gegner, das Renommee ist nicht das
gleiche, aber das fussballerische
Niveau ist in dieser Liga auch ansprechend. Zum Glück dürfen
wir sagen, dass wir eine grosse
Solidarität im Umfeld des Klubs
spüren. Den Leuten wurde bewusst, dass sie durch den Abstieg
etwas verlieren, aber auch, dass
einiges bestehen bleibt. Wir sind
immer noch der FC Thun und du
gehst als Fan immer noch Fussball schauen, sofern es die Umstände bezüglich Pandemie wieder erlauben.
Sie sind ja 2008 bereits einmal mit
dem FC Thun abgestiegen – damals
noch als Spieler. Denken Sie, dass Ihnen diese Erfahrung geholfen hat?
Meine Karriere war von einem
ständigen Auf und Ab geprägt.
In meinen 27 Jahren im Profifussball als Spieler und Sportchef habe ich
fast alles erlebt, viel Frust und Enttäuschung, aber auch viel
Schönes. Dadurch konnte ich
Lebenserfahrung sammeln und
auch ein Vertrauen ins Leben.
Heute weiss ich: Es geht immer
weiter und ich kann diese Prozesse
viel bewusster durchlaufen.
Helfen Ihnen diese Erfahrungen aus
Ihrer Sportkarriere auch generell im
Leben?
Absolut. Wir alle kennen doch Krisenzeiten, in denen sich Hiobsbotschaften häufen und wir das
Gefühl haben, das Leben macht
keinen Sinn mehr. Ich habe zwar
noch nie erlebt, dass jemand im
näheren Umfeld gestorben ist
oder andere krasse Schicksalsschläge dieser Art, aber ich kenne Krisen. Als ich zum Beispiel bei
GC (Grasshopper Club Zürich) keinen neuen Vertrag erhielt und kurz darauf Vater wurde, wusste ich auch nicht, wie es
weitergehen sollte. Auch vorher
bei YB (BSC Young Boys) hatte ich einige Tiefschläge wie etwa Verletzungen zu verdauen. Da hatte ich Angst, dass
es mit meiner Profikarriere nicht
weitergeht. Inzwischen weiss ich,
dass es immer weitergeht. Es gibt
Wege, aus solchen Krisen wieder
herauszukommen. Plötzlich ergeben sich Lösungen. Manchmal
genügt bei einem solchen Hänger
bereits ein aufmunterndes Wort,
wie neulich von einem Grosi im
Bälliz, das mich anlachte und sagte: «Super FC Thun, weiter so!»
Waren Sie eigentlich schon immer
ein Leader-Typ?
Nein, ich war eher ein zurückhaltender Typ. Auch als Kind war ich
sehr scheu. Diesen Mut, auch mal
hinzustehen, habe ich im Laufe
der Jahre entwickelt. Hanspeter Latour, einer meiner prägenden Trainer, sagte mir einmal: «Du musst mehr hinstehen und
dich zeigen.» Latour hat mich
auch in die Rolle des Captains
bugsiert und mich immer wieder
gerne ins kalte Wasser geworfen.
In welchem Sinn ins kalte Wasser geworfen?
Zum Beispiel, indem er mich einfach vor Sponsoren oder Medien gestellt hat und mir das Wort
erteilte. Das musste ich zuerst lernen. Heute kann ich gut vor
Leute stehen. Das sage ich auch
oft meinem Sohn: Wenn du dich
mal überwindest und die Komfortzone verlässt, ist plötzlich
vieles möglich. Mit 20 Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich mal
Sportchef und Präsident eines
Klubs werden könnte.
Was waren die entscheidenden Faktoren für Ihren Erfolg als Fussballprofi?
Da muss man demütig sein. Ich
kann nicht behaupten, dass ich
mir das alles erarbeitet habe. Ein
gewisses Fussballtalent war mir
in die Wiege gelegt worden. Und
ich hatte den Ehrgeiz, erfolgreich
zu sein. Wahrscheinlich kam dieser Ehrgeiz auch einfach davon,
dass ich geliebt werden wollte
und die Anerkennung meines
Vaters suchte. (Heute kann man
dieses Phänomen ja in diesem
ganzen Fitness-Hype beobachten; die jungen Männer gehen
doch nur in den Kraftraum, weil
sie Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung haben.) Bei mir war klar, dass ich derjenige sein wollte, der am meisten
Tore vorbereitet oder schiesst. Gut
möglich, dass auch bei einem Robert Lewandowski ein solcher Antrieb dahintersteckt. Diese Frage
«Was ist es, das dich wirklich antreibt?» finde ich sehr spannend,
Sie nicht auch?
Doch, auf jeden Fall. Ich stelle mir
diese Frage selbst auch oft und habe
Mühe, eine klare Antwort zu finden.
Ich denke, in der ganzen Persönlichkeitsbildung spielen sehr viele Faktoren eine Rolle. Ich wuchs
in Belp in einer Familie auf, wo
nicht alles so gut lief. Meine Eltern
hatten nicht die beste Ehe. Später
zerbrach die Ehe dann auch. Vielleicht lehrte mich das, im Leben
zu kämpfen. Wer weiss, wenn ich
ganz viel Liebe bekommen hätte,
wäre ich vielleicht nicht so ehrgeizig gewesen. Schwierig zu sagen. Wichtig war mit Sicherheit,
dass ich eine handvoll Personen
in meiner Karriere traf, die mich
entscheidend weiterbrachten.
Ich habe mir das also bei weitem
nicht alles selbst erarbeitet. Das
macht demütig und dankbar.
Wie ist das bei Ihrem Sohn? Definiert
er seinen Selbstwert auch stark über
Leistung?
Ein guter Punkt. Ich wollte immer, dass mein Sohn aus Freude
Fussball spielt und dass er meine Anerkennung nicht nur dann bekommt, wenn er erfolgreich ist.
Er soll wissen, dass er immer geliebt wird von seinen Eltern, ob
er nun Tore schiesst oder nicht.
Als er einmal den Spass verlor in
der ganzen Talentförderung mit
dem ganzen Druck und den Erwartungen, sagte ich ihm, er könne ja auch zurück zu seinem alten
Klub nach Gerzensee. Dort spielt
er aktuell in der 3. Liga, aber wer
weiss, was noch kommt. Mit diesem Leistungsdruck, den wir in
unserer Gesellschaft kultivieren,
habe ich schon ein Problem. Wer
ein Manko oder ein Defizit hat,
wird aussortiert.
Was gibt Ihnen Hoffnung und Halt im
Leben?
Ich bin nicht in dem Sinn religiös und mache mir noch nicht viele Gedanken über ein Leben danach, obwohl ich schon an eine
höhere Macht glaube. Am Anfang
meiner Karriere bei YB hatte ich oft Existenzängste. Da half mir
das Buch «Gespräche mit Gott»,
eine andere Sicht aufs Leben zu
entwickeln, eine Art Urvertrauen ins Leben. Das war genau das,
was ich damals brauchte. Am
Schluss ist jeder Fussballprofi auch nur ein Mensch mit seinen Ängsten und Sorgen. Diese
menschliche Seite geht oft vergessen vor lauter Prämien, Tattoos und fetten Autos. Mir ist
wichtig, diese Menschlichkeit
immer wieder im Blick zu haben
und auch darauf hinzuweisen.
Da drängt sich die Frage auf: Welche
menschlichen Werte suchen Sie bei
den Spielern und Mitarbeitern des
FC Thun?
Am liebsten hat man immer
pflichtbewusste, demütige Mitarbeiter, die eine gewisse Loyalität zum Klub haben. Respekt ist
mir ebenfalls wichtig. Aber es ist
schwierig, all dies zu erwarten.
Die heutigen Jungen haben andere Werte. Unseren Kindern geht es
sehr gut und die Leidensfähigkeit ist vielleicht nicht mehr so hoch.
Deshalb halte ich nach folgenden
Eigenschaften besonders Ausschau: Ist da jemand, der auch
mal durchbeissen kann, wenn
zum Beispiel eine Krise wie jetzt
die Pandemie kommt? Man kann
nicht immer nur verlangen, verlangen und noch mehr verlangen,
aber wenn mal harte Zeiten kommen gleich Ausreden suchen und
davonlaufen. Wir wünschen uns
Spieler, die hier sein wollen. Klar,
die Identifikation mit einem Verein ist nicht mehr so hoch wie
zu meiner Zeit als Profi, aber du
brauchst Spieler in deinen Reihen,
die Vollgas für ihren Klub geben
und Verantwortung übernehmen.
Die Corona-Krise fordert uns alle
enorm heraus – auch die Sportwelt
steht vor einer ungewissen Zukunft.
Wie gehen Sie damit um?
Da kommt wieder mein zuvor erwähntes Urvertrauen zum Tragen.
Meine Erfahrung ist, dass es immer weitergeht. Ich war zwar nie
in einem Krieg und kann nicht
von echtem Leid sprechen, aber
meine Erfahrung ist, dass es immer Grund zur Hoffnung gibt. Daran halte ich auch in der aktuellen
Lage beim FC Thun fest. Wir wissen noch nicht, wie es wirtschaftlich weitergeht, wenn längere Zeit
wegen Corona nur Geisterspiele stattfinden können, doch wir
glauben an die Zukunft unseres
Vereins.
Dieses Gespräch entstand im Zusammenhang mit der regionalen Zeitungs-Ausgabe «Jesus.ch-Print» fürs Berner Oberland, die im Dezember 2020 erscheint. Hier können Sie die «Hope-Stories»-Ausgabe lesen oder auch bestellen. Hier berichtet Andres Gerber im Video, warum er bei dieser Sonderausgabe als Gesprächspartner zugesagt hat:
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Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Jesus.ch