Die Türkei und die EU – religiöse Prägungen und Machtpoker
Mit dem Islam die Byzantiner besiegt
Die Türken blicken auf die ruhmvolle Epoche des Osmanenreichs zurück; die Erinnerung daran ist auch heute wach, wie jeder Istanbul-Besucher feststellen kann. Im 15. Jahrhundert setzten die Osmanen, die aus der Tiefe Anatoliens kamen, ihren Fuss auf europäischen Boden. Bald knechteten sie ein Balkanvolk nach dem andern und bedrohten das Abendland.
Der Islam gab den Osmanen eine religiöse Rechtfertigung für den Kampf gegen das christliche Bollwerk Byzanz, an dessen Schätze sie 1453 Hand legten. Die nationale Identität schärfte sich im Kampf gegen die christlich geprägten Nachbarvölker der Griechen und Bulgaren, Armenier und Russen. Auch wenn in der modernen Türkei der Islam das Staatsverständnis und das öffentliche Leben nicht mehr bestimmen soll – die Türkei ist islamisch geprägt.
Sucht Europa seine Wurzeln?
Europa dagegen hat christliche Wurzeln; dies zeigen Rechtsstaatlichkeit und der Respekt vor den individuellen Menschenrechten (auch der Frauen) sowie das Ethos des Dienens und der Solidarität, das Asien fremd ist. Doch weiss Europa noch, was es auszeichnet? Wie tragfähig ist die christliche Grundlage in den säkularen Staaten Westeuropas? Was darf sie da gelten, wo heute viele Millionen Muslime leben?
Die Vision einer toleranten multikulturellen Gesellschaft beflügelte und blendete die Meinungsmacher in Westeuropa – seit dem 11. September hat sie stark an Glanz verloren. Frankreich kämpft mit islamischen Forderungen, die den säkularen Charakter des Staates zunichte machen; das Kopftuchgesetz ist ein Ausdruck davon. Zeigt sich die Unsicherheit über die europäische Identität nicht auch im Verzicht auf die Erwähnung Gottes in der geplanten EU-Verfassung?
Kein kleiner Fisch
Die Türkei grenzt an Iran, Irak und Syrien; sie ist kein kleiner Fisch für die EU, nicht nur aufgrund ihrer Mentalität. Wegen ihrer Geburtenrate wird sie in einer Generation alle europäischen Staaten bevölkerungsmässig bei weitem hinter sich gelassen haben (Prognose: 88 Millionen im Jahr 2025). Ankara würde im Europäischen Parlament die grösste Delegation stellen.
Der von Mustafa Kemal Atatürk 1923 gegründete säkulare türkische Staat verfolgt die Annäherung an Europa als strategisches Ziel. Das Ziel, Wohlstand wie in Deutschland zu erreichen, treibt einen grossen Teil der Bevölkerung an. Doch die Generäle, die als Hüter von Atatürks Erbe eine moderne Gesellschaft nach westlichem Vorbild anstreben, stehen der Verwirklichung ihres Ziels selbst im Weg: Sie engen den Handlungsspielraum der demokratisch gewählten Regierung immer noch stark ein, was für Brüssel unannehmbar ist.
Die Islamisten machen es besser
Die Türken haben die Nase voll von korrupten Politikern; bei den letzten Wahlen im November 2002 kamen deshalb die Islamisten mit einem Erdrutschsieg an die Macht. Die amtierende Regierung unter Recep Erdogan hat die Wirtschaft nach dem schweren Einbruch der Vorjahre stabilisiert; sie betreibt bisher (auch wegen Brüssels Augen?) eine bemerkenswert gemässigte Innenpolitik.
Dies lässt sich auch an der Behandlung von religiösen Randgruppen ablesen. Die winzige, junge Minderheit der 3000 türkischen Protestanten hat im letzten Jahr keine neuen Erschwernisse in ihrem Gemeindeleben verzeichnet; ihr rechtlicher Status bleibt allerdings ungeklärt.
Was Ankara will – was Brüssel fordert
Der zweitägige Besuch von Romano Prodi in Ankara warf ein Schlaglicht auf die unheimlich komplexen Kräftefelder, in denen sich die türkische Politik bewegt. Prodi verlangte eine rasche Lösung des Zypern-Konflikts (auch dagegen sträuben sich die machtverliebten nationalistischen Generäle) und forderte Ankara zu weiter gehenden politischen Reformen auf.
Erdogan erhoffte sich vom ersten Besuch eines EU-Kommissionspräsidenten in Ankara vor allem ein klares Signal dafür, dass bis Ende dieses Jahres ein Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei festgelegt wird. Er mahnte die EU, von seinem Land nicht mehr zu fordern als von den übrigen Kandidaten. Nach den ersten Gesprächen am Donnerstag schien das Klima zwischen den beiden Delegationen eisig, wie die NZZ schrieb.
Polit-Justiz gegen Kurden
In einer Rede vor dem türkischen Parlament betonte Prodi nämlich, das Land müsse erst die Unabhängigkeit der Justiz, die bürgerlichen Grundrechte sowie die Freiheit von Religion und Meinung sicherstellen und garantieren. Die EU verfolgt etwa den Prozess gegen die Abgeordnete Leyla Zana, die 1994 inhaftiert worden war, nachdem sie ihren Amtseid auf Kurdisch abgelegt hatte. Dass Prodi diese kurdische Frau namentlich erwähnte, verärgerte Ankara. Das grösste Problem bei den offiziellen Gesprächen dürfte aber diesmal Zypern gewesen sein; der griechische Süden wird voraussichtlich am 1. Mai ohne den Norden der EU beitreten.
Erdogan erwartete laut der NZZ von diesem Besuch, „dass die EU-Politiker ihm den Rücken stärken würden, um bei der bevorstehenden Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 23. Januar besser standhalten zu können“. In diesem Gremium wiegt „das Wort der Generäle noch immer schwerer wiegt als das der Politiker“.
Brüssel im anatolischen Poker
Offensichtlich sucht die türkische Regierung die Aussicht auf einen EU-Beitritt im innertürkischen Machtkampf einzusetzen. Es scheint, als wolle Erdogan die Generäle vor die Wahl stellen, vor Europas Tür zu bleiben oder aufs letzte Wort im Staat zu verzichten.
Wenn das Kalkül des Regierungschefs aufgeht, hätte Brüssel einem islamischen Politiker in seinem Bestreben geholfen, der zivilen Führung die volle Kontrolle über das (eigentlich westorientierte) türkische Militär zu verschaffen. Bleibt die Frage, welches Gesicht diese so genannt gemässigte islamistische Regierung im Falle ihres Triumphs zeigen wird…
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch