Assyrischer Christ Cebrail
«Die Wahlen in der Türkei ändern nichts für uns»
In seiner Kindheit und Militärzeit erlebte der assyrische Christ Cebrail (Name geändert) harte Unterdrückung. Gleich wie er verliessen zahlreiche Angehörige seiner Konfession die uralt-angestammte mesopotamische Heimat. Die Unterdrückung in der Südosttürkei sei auch heute ungemindert hoch. Daran, so Cebrail, würden die Wahlen vom 24. Juni 2018 nichts ändern, gleich wie sie ausgehen.
«Ich bin ein seit 1979 in der Schweiz lebender Assyrer», sagt Cebrail im Gespräch mit Livenet. «Wir sind heimatlos und hilflos. Wir haben unsere Menschlichkeit und Freiheit verloren. Wir leben vertrieben in allen Erdteilen.»Cebrail stammt aus der Südosttürkei. Seine Vorfahren lebten seit je im Zweistromland am Euphrat und Tigris, dem ehemaligen Mesopotamien – dort lebten die Assyrer in verschiedenen Regionen, mehrheitlich im Irak und in der Türkei. Millionen zugehörige des biblischen Volkes der Assyrer verloren im Laufe der Jahre ihre uralte Heimat. Die wenigen, die geblieben sind, sind Fremde geworden im eigenen Land. «Das schmerzt uns und macht uns traurig.»
Wahlen 2018: «Wir wollen Freiheit»
«Wir Assyrer haben bei den Wahlen 0,0 Prozent Chancen. Erdogan wird gewinnen. Selbst bei einem anderen Wahlausgang würde sich für uns nichts ändern. Wir wollen unsere Freiheit und Menschlichkeit. Ohne Anschläge, Unterdrückung und Verfolgung.»Besserung ist laut Cebrail jedoch nicht einfach so in Sicht, nach all den Jahrzehnten des Drucks ist zudem das Vertrauen verloren. «Sowohl unter der grossen Partei Erdogans wie auch durch die anderen Parteien stehen wir unter Druck; es gibt keine, die uns geholfen hat.» Anfeindungen erlebt die alte Christengemeinschaft in sämtlichen Ländern der Region.
«Jeden Tag denke ich an meine Heimat. Wir sind über die ganze Welt verteilt. Bis zu 15 Millionen von uns leben in den verschiedenen Nationen.» Ein Volk ohne Land. Auch im Irak nimmt die Zahl der Assyrer und anderer christlicher Konfessionen seit mehreren Jahren stetig ab.
«Europa muss wach bleiben»
«Wir haben alles verloren», blickt Cebrail zurück. Europa müsse wach bleiben und die Augen offen haben, «weil ich es in meinem Heimatland gesehen habe. Wenn wir ein christliches Fest feierten, mussten wir immer wache stehen, weil wir sonst angegriffen worden wären. Mein Ort hiess früher 'Anhil', nun wurde daraus 'Yemisli'. Auch unsere Nachnamen wurden von den Behörden geändert. Aus assyrischen Nachnamen wurden türkische.»
In der heutigen Türkei leben nur noch wenige tausend Assyrer in der angestammten Heimat. «Mehrere Tausend wurden massakriert, weit nach dem Völkermord 1914 und 1915 an den Armeniern und Assyrern und weiteren christliche Konfessionen: etwa in zwei grösseren Wellen in den Jahren 1982 und 1993; bei letzterem protestierten die Exil-Assyrer schriftlich bei der Ministerpräsidentin der Türkei Tansu Ciller.» Reaktion erfolgte darauf keine. «Assyrische Christen werden nicht akzeptiert. Die wenigen werden unterdrückt, so etwa die Kinder in der Schule.»
Druck ist geblieben
Die wenigen noch verbliebenen Assyrer leben im Südosten der Türkei. «Ich lebte früher ebenfalls dort. Wir durften unsere Muttersprache in der Schule nicht sprechen, manchmal wurden wir geschlagen. Wenn ich ein Kreuz trug, erhielt ich Prügel und wurde angespuckt. Das ist Schikane und kein gutes Leben. Wir sind nicht freiwillig in die Schweiz gekommen.»
Beruflich werden Assyrer in der Heimat auch heute noch benachteiligt. «Der Druck und die Verfolgung waren damals wie heute riesengross. Ich machte zwanzig Monate Militär, wurde erpresst und aufgefordert, mich beschneiden zu lassen und zum Islam zu konvertieren. Wer Daniel, Simon oder Markus heisst – also einen christlichen Vornamen trägt –, wird geschlagen.» Geändert habe sich daran nichts. Im Gegenteil. Unter Erdogan hat sich die Tonlage verschärft.
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet