Israelische Siedlung Emmanuel

Kräftemessen zwischen Religiösen und Staat in Israel

Als sie am vergangenen Donnerstag, 17. Juni, von tanzenden Demonstranten auf den Schultern durch Jerusalem getragen wurden - gekleidet in ihre besten Sabbat-Anzüge - war das für die 35 ultraorthodoxen Männer aus der verschlafenen Siedlung Emmanuel wohl ein unvergesslicher Moment: Als «Märtyrer für den reinen Glauben» gefeiert, traten sie von hunderttausend Gleichgesinnten begleitet eine zweiwöchige Haftstrafe an. Umgeben von einem wogenden Meer schwarzer Hüte erschienen sie am späten Nachmittag bei der zentralen Polizeistation.

Der Fall der Mädchenschule von Emmanuel markiert den bisherigen Höhepunkt im lange angeheizten Konflikt zwischen streng religiösem Judentum und weitgehend säkular geprägtem Staat in Israel. Emmanuel ist eine israelische Siedlung mitten im Westjordanland, ein 2.800-Seelen-Nest mit überwiegend ultraorthodoxer Bevölkerung. Zunächst schien es sich bei der Auseinandersetzung in der Schule «Beit Yaakov» um eine rein interne Angelegenheit der Elternschaft zu handeln: Ein Teil der Eltern - "Aschkenazim", also ursprünglich aus Osteuropa stammend und kulturell deutsch geprägt - befand die Entwicklung an der religiös ausgerichteten Schule als ungut: Die Familien der Schülerinnen würden zunehmend «moderner» und religiös laxer, die geistliche Bildung ihrer Töchter leide darunter.

Um ihre eigenen Mädchen vor dem Umgang mit «schädlichen Einflüssen» wie modernen Massenmedien zu schützen und um die Qualität der religiösen Erziehung zu sichern, gründeten die besorgten «Charedim» («Gottesfürchtigen») in Absprache mit der Schulleitung einen eigenen Unterrichtszweig in einem leerstehenden Teil der Schule. Um eine Mischung ihrer Kinder mit den restlichen Schülerinnen zu verhindern, wurde eine Trennwand durch den Schulhof gezogen.

Rassismusvorwürfe

Doch 2007 zog die Mutter eines siebenjährigen Mädchens aus Emmanuel vor Gericht, weil ihr Antrag auf Teilnahme am Unterricht im «charidischen» Schulzweig abgelehnt worden war - aus rassistischen Gründen, wie sie mutmasste. Denn, so stellte sie fest, von den aschkenasischen, also europäischstämmigen Bewerberinnen seien 97 Prozent angenommen worden - von den sephardischen, also orientalisch geprägten Bewerberinnen hingegen nur 54 Prozent. Unterstützt wurde die Mutter bei ihrer Klage von Rabbi Yoav Lalum, der mit einer eigenen Hilfsorganisation gegen Diskriminierung sephardischer Kinder an religiösen Schulen kämpft.

Der Fall ging bis vor den obersten Gerichtshof. Die beklagten Eltern wiesen den Vorwurf des Rassismus vehement vor sich: Die Aufnahmekriterien seien rein religiöser Art, argumentierten sie: So gehe es um züchtige Kleidung, treue Befolgung der religiösen Gebote in den Familien sowie die Gebetsform nach der als «reiner» angesehenen aschkenasischen Tradition. Lalum konterte, das sei eine beliebter Vorwand für versteckten Rassismus: Sephardische Familien würden grundsätzlich der religiösen Laxheit verdächtigt und hätten dann in einem demütigenden Verfahren das Gegenteil zu beweisen.

Gefängnisstrafe

Der oberste Gerichtshof folgte dieser Sichtweise, forderte die Beit Yaakov-Schule Anfang dieses Jahres auf, die Trennwände einzureissen und den gemeinsamen Unterricht für alle Schülerinnen wieder einzuführen. Woraufhin die aschkenasischen Eltern ihre Töchter von der Schule nahmen und woanders unterrichten liessen. Der vorsitzende Richter des obersten Gerichtshofs, Edmund Levy, zeigte sich erschüttert von so viel Sturheit und forderte Anfang vergangener Woche die aschkenasischen Eltern in einem bis dato einmaligen Vorgang ultimativ dazu auf, ihre Töchter wieder in den gemeinsamen Unterricht zu schicken. Und verhängte für den Fall der Weigerung eine zweiwöchige Gefängnisstrafe. Anzutreten am Donnerstag.

Die aschkenasischen Eltern reagierten empört und stellten klar, dass für sie das «Gebot Gottes über jedem anderen Gesetz» stehe. In diesem Fall sei das Absitzen der Haftstrafe für sie eine Ehre, um den Vorrang des Glaubens öffentlich kundzutun. Ihr Weg zum Jerusalemer Polizeiquartier am Donnerstag wurde zum Triumphzug mit mehr als Hunderttausend auf den Strassen, angeführt von prominenten aschkenasischen Rabbinern. Zu den befürchteten Zwischenfällen - die israelische Polizei hat durchaus schlechte Erfahrung mit randalierenden Religiösen - kam es dabei jedoch nicht.

Zerrissene Gesellschaft

Der Fall wirft ein grelles Licht auf die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft: So bilden etwa die ultraorthodoxen Juden längst nicht jene homogene Masse, als die ein Aussenstehender sie gerne ansieht. Die verbreitete Diskriminierung der südländischen Juden im religiösen Milieu scheint dabei etwas zu sein, womit die Sephardim sich genauso wie andere jüdische Gruppierung orientalischer oder afrikanischer Prägung arrangiert haben: Die Ausbildung und Lebensweise der «Weissen» gilt auch bei ihnen generell als höherrangig - praktisch alle prominenten Sephardim, wie etwa die die Führung der sephardischen Shas-Partei, schicken ihre Kinder auf aschkenasische Schulen. Darum war es nicht verwunderlich, dass auch der geistliche Führer der Shas-Partei, Rabbi Ovadia Yosef, das Vorgehen der sephardischen Kläger im Fall der Emmanuel-Schule kritisierte: Der Streit hätte aussergerichtlich gelöst werden müssen, meinte er.

So eskalierte der Streit an der Emmanuel-Schule jedoch zum «dramatischsten Staats-Religions-Konflikt in der israelischen Geschichte», wie Kommentatoren es nannten. Denn die überwiegend säkulare Gesellschaft schaut seit Jahrzehnten mit wachsendem Unmut dem steigenden Einfluss des religiösen Sektors in Israel zu. Hatte Staatsgründer David Ben Gurion die Religiösen noch als ein aussterbendes Phänomen angesehen und ihnen darum recht sorglos zahlreiche Konzessionen zugestanden, um ihre Zustimmung zum Staat Israel zu gewinnen - sehen die Säkularen heute die kinderreichen Ultraorthodoxen zunehmend als Bedrohung an. Dass die streng Religiösen etwa keinen Militärdienst ableisten müssen, wird als grundlose Bevorzugung kritisiert.

Auch das religiöse Schulsystem wird unter Säkularen mit Argwohn betrachtet: Die religiösen Schulen sind vom generellen Prüfungssystem ausgenommen und folgen einem ganz eigenen Lehrplan. Gelehrt wird vor allem, was für das Thora-Studium gebraucht wird - Lesen, Schreiben. In naturwissenschaftlichen und anderen Fächern hingegen bleiben die ultraorthodoxen Kinder auf einem denkbar niedrigen Niveau. Damit fallen sie für den regulären Arbeitsmarkt praktisch aus; ein völlig dem Thora-Studium gewidmetes Leben ist vorprogrammiert. Und damit ein Leben von Sozialhilfe - als «Schmarotzer», wie sie von Säkularen beschimpft werden. Dass die finanzielle Staatsbeihilfe für ältere Studenten mit Familie ab 2011 gestrichen werden soll, war eine erste schlimme Nachricht in diesem Jahr für die Religiösen - die unter liberalen Juden grossen Beifall fand.

Dass auch die «Beit Yaakov»-Schule zu hundert Prozent vom Staat finanziert wird, ist für Richter Edmud Levy ein Grund mehr, dass der Staat auch gewisse Grundkriterien für den Schulalltag bestimmen kann - wie etwa das Verbot jeglicher Diskriminierung von Kindern dunkler Hautfarbe. Dass diese Kriterien aus Sicht der «Charedim» die «religiöse Unversehrtheit» ihrer Kinder gefährden, zeigt, welch unterschiedliche Weltanschauungen im «jüdischen Staat» Israel aufeinander prallen.

Um Kompromiss bemüht

Richter Levy signalisierte dabei zuletzt trotz wüster Beschimpfungen durch die Demonstranten im Stil von «Nazi-Richter» eine gewisse Kompromissbereitschaft: Die 22 verurteilten aschkenasischen Familienmütter, die ebenfalls in Jerusalem zum Haftantritt hätten erscheinen müssen, waren nicht bei der Polizeistation angetreten. Die Polizei stand schon startklar für Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in Emmanuel, da verschoben die Richter den Zeitpunkt des Haftantritts für die vermissten Damen bis auf Weiteres - am 22. Juni soll in einer weiteren Verhandlung über den Umgang mit den Haftverweigerinnen entschieden werden.

Allerdings hatten die «Charedim» von Anfang an betont, dass das Absitzen einer Gefängnisstrafe gegen die Würde der Frauen verstosse und deshalb die Mütter nicht ins Gefängnis gehen würden. Ihr Rabbiner habe das so bestimmt. Das säkulare Israel reagiert empört auf so viel «Anmassung»: Der Kommentator der linksliberalen Zeitung Haaretz forderte die Richter am Sonntag auf, dem Druck der Ultraorthodoxen nicht nachzugeben - Gesetzeshüter und Staat stünden jetzt vor einer richtungsweisenden Entscheidung für die Zukunft der israelischen Gesellschaft: «21. Jahrhundert oder Emmanuel».

Autor: Gabi Fröhlich

Datum: 24.06.2010
Quelle: Kipa

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