Bagdad

Schrecken ohne Ende für Iraks Minderheiten?

Die Lage religiöser Minderheiten im Irak hat sich in den letzten Monaten nochmals verdüstert. "Es war noch nie schlimm", klagten anglikanische Christen in der Hauptstadt Bagdad ihrem Geistlichen Andrew White. Auch Mandäer, Yezidi und Juden fürchten ständig um ihr Leben. Im kurdischen Norden foltern die Sicherheitskräfte Minderheiten, die Autonomie fordern.

Viele Angehörige religiöser Minderheiten sind entführt, gefoltert und getötet worden. Bei seinem Besuch in Bagdad im Juli erfuhr White, dass in der Vorwoche 36 Gemeindeglieder verschleppt worden waren. Die 36-jährige Christin Nisan Franso ist aus Bagdad geflüchtet, da in ihrem Stadtteil Dora sunnitische Extremisten regelrecht Hatz auf Christen machen. Sie hätten von ihnen verlangt, dass sie Sondersteuern entrichten oder gar zum Islam konvertieren, sagte Franso dem NZZ-Reporter. "Täglich gingen neue Drohungen bei uns ein." Als ihr Nachbar ermordet wurde, flohen sie und ihre Familie mit dem Allernötigsten in die Ninive-Ebene nördlich von Mossul.

Gläubige ohne Lobby im Westen

Nach glaubwürdigen Schätzungen hat die Hälfte aller Christen des Iraks das Land verlassen. Über 30 Kirchen wurden zerstört. Die chaldäischen Christen stellen vermutlich gegen 40 Prozent der 2,2 Millionen Flüchtlinge. An einem offiziellen Hearing in Washington D.C. beklagte der Brite White, die Staatengemeinschaft vergesse die Minderheiten. Die von den Amerikanern geführte Koalition habe sich nicht der Christen angenommen und ihnen nicht geholfen. "Keine Regierung hat ihre Nöte verstanden." Ein unvermittelter massiver Rückzug der US-Truppen würde allerdings zu mehr Blut in den Strassen führen, sagte White vor dem Ausschuss. Die von Schiiten dominierte irakische Regierung kann die religiösen Minderheiten nicht schützen; sie deckt nach Berichten Extremisten, die sie terrorisieren, und lässt sie gewähren. Eine prominente chaldäische Christin erklärte, die Christen würden zur Zielscheibe, weil sie mit den westlichen Invasoren identifiziert würden und keine Milizen hätten.

Kurdistan: Vom Regen in die Traufe?

Zu Tausenden sind in den letzten Jahren Christen wie Franso und auch Angehörige der Glaubensgemeinschaften der Shabak und Yezidi in die Ninive-Ebene im Norden geflohen, um dem Terror zu entkommen. Dort ist es relativ sicher, doch wird das Gebiet von den Kurden beansprucht. Kurdische Sicherheitskräfte versuchen, die Forderung der Minderheiten nach Autonomie zu unterdrücken. Während sich ihre Führung gegenüber dem Ausland tolerant gibt, foltert die kurdische Sicherheitspolizei aufrechte Männer. "Sie haben mir die Augen verbunden und mich angekettet", sagt ein Lehrer, "und drei Tage lang immer wieder geschlagen." Nach fünf Tagen sei er freigelassen worden, nachdem ihm seine Peiniger mit dem Tod gedroht hätten, sollte er vor Gericht Klage erheben. Der 39-Jährige verlor sein linkes Augen und kann auf dem linken Ohr kaum noch hören.

Die Christen verlangen Autonomie - und geraten damit in Clinch mit den Kurden, die nach dem Fall Saddam Husseins ihren eigenständigen Teilstaat arrondieren wollen. Die Ninive-Ebene um Mossul ist umstrittenes Gebiet. Die Kurden sind gemäss NZZ daran, das Gebiet wie Kirkuk und Teile der Provinzen Diyala und Salaheddin in ihren Teilstaat zu integrieren. Christliche Politiker aus der Region laufen dagegen Sturm. "Wir Assyrer sind die Ureinwohner des Iraks", sagt Amin Koshaba von der Assyrischen Demokratischen Bewegung. "Wir haben eine eigene Sprache und Kultur, diese wollen wir bewahren." Gemeinsam mit den Chaldäern bilden die Assyrer die grösste der zahlreichen christlichen Gemeinschaften im Irak.

Vorbild Schweiz

Aus Sicht der christlichen Politiker haben es die Kurden nicht geschafft, in ihrem Landesteil eine wirklich demokratische Ordnung aufzubauen. Genau das macht sie gegenüber den Begehrlichkeiten der Kurden besonders misstrauisch. "Die Ninive-Ebene ist unser Land", sagt Koshaba, "wir wollen hier die Selbstverwaltung." Nicht einen Teilstaat, wie ihn die Kurden haben, strebten die Christen an, sondern einen eigenen Regierungsbezirk mit ähnlichen Befugnissen, wie ihn die Kantone in der Schweiz haben. In der fruchtbaren Ebene zwischen Tigris und dem Grossen Zab leben so viele Völker und Religionsgemeinschaften zusammen wie nirgendwo sonst im Irak: Araber, Kurden, Turkmenen, Christen, Yezidi, Shabak - und einst auch Juden.

Kurden gegen Yezidi

Hunein Kaddo, Abgeordneter der Shabak in Bagdad, wirft den kurdischen Sicherheitskräften ebenfalls schwere Rechtsverstösse vor. "Sie versuchen uns, mit allen Mitteln einzuschüchtern", sagt Kaddo, "jedes Mittel ist ihnen recht, um uns zu kurdisieren, aber wir sind keine Kurden." Die überwiegende Zahl der Shabak gehört einer schiitischen Glaubensrichtung an, eine Minderheit sind Sunniten. Sie sprechen eine eigene Sprache, die zwar mit dem Kurdischen verwandt ist, gleichzeitig aber viele arabische und türkische Einsprengsel hat. Die Zukunft der Shabak liege wie die der Christen in starken Kommunalverwaltungen im Verbund mit Bagdad, sagt Kaddo. "Nur so können wir das Überleben unseres Volkes sichern."

Religiös gestützte Hassgefühle

Wegen ihres Glaubens, der das Böse in Gestalt des Teufels nicht kennt, werden die Yezidi von den Kurden, die mehrheitlich Sunniten sind, wie auch von den Arabern als "Teufelsanbeter" verachtet. Die tiefsitzenden Ressentiments brachen erneut aus, als Ende April eine junge Yezidi aus Bashika, die eine Liebelei mit einem sunnitischen Araber gehabt hatte, brutal ermordet wurde. Im ganzen Nordirak verbreitete Handy-Videos zeigten einen entfesselten Mob meist junger Männer, die die 17-Jährige durch die Strasse zerrten, mit Füssen traten und schliesslich mit einem schweren Zementblock erschlugen. Polizisten schauten tatenlos zu, und Frauen trillerten, als wäre es eine Freudenfeier. Als Vergeltung für das "Verbrechen der Ungläubigen" ermordeten sunnitische Extremisten in Mossul 26 Yezidi.

Kurden oder Araber das geringere Übel?

Die Yezidi fühlen in vergangene Zeiten zurückversetzt, als Hunderte von ihnen von Kurden umgebracht wurden. Das Gefühl, dass sie im Grunde den Muslimen schutzlos ausgeliefert sind, wird verstärkt durch gezielte kurdische Landkäufe in der Yezidi-Region. Doch meint ein Yezidi, der für den kurdischen Regionalpräsidenten Barzani arbeitet, seine Gemeinschaft könne nur unter dem Schutz Kurdistans überleben; "die Araber wollen uns vernichten". Amin Koshaba von der grössten Christen-Partei fürchtet dagegen die Kurden mehr, da sich die terroristische Bedrohung durch sunnitische und schiitische Extremisten arabischer Sprache einmal verflüchtigen werde. "Die Kurden werden uns aber immer unterwerfen wollen."

Quelle: Livenet / NZZ, Baptist Press

Datum: 03.08.2007
Autor: Peter Schmid

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