Der Staat und die Siedler: Wie bleibt Israel jüdisch?

Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern geht es immer auch ums Ganze: Mit den Grenzen steht der junge Staat der Juden selbst, seine Identität und seine Zukunft auf dem Spiel. Der Israel-Kenner Werner Scherrer bezweifelt den Sinn des Rückzugs aus dem Gaza-Streifen.

Im Schatten der Auseinandersetzungen um die Siedlungen im Gaza-Streifen gestaltet die Regierung Sharon die Grenze zur Westbank ohne weitere Verhandlungen mit den Palästinensern; dies geschieht nach mehreren gescheiterten Versuchen, mit Arafat zu einer Regelung zu gelangen.

Der Streit um die Grenzen wird in Israel auch deshalb anhaltend heftig geführt, weil die Identität des Staates selbst weiterhin umstritten ist. Bekanntlich hat er 57 Jahre nach seiner Gründung noch keine Verfassung.

Grundlegende Differenzen

Religiöse Juden, Zionisten und Ultra-Orthodoxe sehen das politische Gemeinwesen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Und nochmals anders verstehen den Staat jene säkularen Israelis, die nicht nach der Tradition der Vorfahren und den 613 Geboten der Thora leben – und die Araber mit israelischen Bürgerrecht.

Werner Scherrer, der Gründer und langjährige Leiter von Pro Israel (Thun), hat sich seit 1961 jedes Jahr einige Wochen im Land aufgehalten – ingesamt gegen fünf Jahre. In seinen Augen verleitet die Kriegsmüdigkeit Israelis zur Illusion, dass mit dem Rückzug aus den besetzten Gebieten Ruhe einkehrt. Mütter seien es müde, ihre Söhne und Töchter in die Territorien zu schicken.

„Gaza-Rückzug löst grundlegende Probleme nicht“

Gaza ist eine Hypothek, das räumt Scherrer ein, aber mit dem Rückzug löse Sharon die grundsätzlichen Probleme nicht. Er ist überzeugt: „Auch die Nachfolger Arafats streben insgeheim danach, die Juden ins Meer zu werfen.“ Scherrer verweist auf die sporadischen Raketenangriffe auf israelisches Gebiet. Keine ausländische Macht habe sie gestoppt; Israel müsse sich mit militärischen Mitteln wehren.

An grundsätzlichen Problemen erwähnt der Ex-Nationalrat der EDU die Doppelforderung der Palästinenser, dass Jerusalem unter internationale Verwaltung gestellt und der Ostteil Hauptstadt ihres Staates wird. Weiter beanspruchen sie für die Flüchtlinge von 1948 das prinzipielle Recht auf Rückkehr. Und: Die Siedlungen im Westjordanland – Sharon will einstweilen vier räumen – sollen alle aufgelöst werden.

Über Israels einseitiges Vorgehen in diesem zentralen Gebiet (die Juden nennen es seit biblischen Zeiten Judäa und Samaria) herrscht auf Seiten der Palästinenser weiterhin Empörung – woran sich die Weltöffentlichkeit nachgerade gewöhnt hat.

Zaun weiter westlich: Beachtliche Zugeständnisse Sharons

Aber die provisorische Grenze, die Israel mit dem Sicherheitszaun zieht (etwa 10 Prozent sind Betonmauer), verläuft laut der New York Times deutlich näher an den Grenzen von 1967, als dies Sharon und die Siedler-freundliche Rechten in Israel ursprünglich beabsichtigten – und als man im Westen aufgrund der Medienberichte weithin meint.

Die Zeitung führt dies auf amerikanischen Druck und auf ein Urteil des Obersten Gerichts Israels zurück. Dieses wies die Regierung im letzten Sommer an, den Sicherheitszaun näher bei der so genannten grünen Linie von 1967 zu bauen.

Acht Prozent der Westbank

Laut dem Zeitungsartikel machen die Gebiete zwischen der grünen Linie und dem Sicherheitszaun acht Prozent der Westbank aus (die grossen Siedlungsblöcke von Ariel im Norden, Maale Adumim östlich von Jerusalem und Gush Etzion im Süden eingeschlossen).

Diese acht Prozent sind halb so viel, wie Sharon noch vor einem Jahr wollte. Und, so die New York Times, nicht mehr viel mehr als die fünf Prozent, welche Präsident Clinton Arafat im Jahr 2000 schliesslich anbot.

Bei dieser Grenzziehung werden 99,5 Prozent aller Westbank-Palästinenser östlich des Sicherheitszauns wohnen – und ein Viertel der Siedler. Mit anderen Worten: Weniger als 10'000 von zwei Millionen Palästinensern würden durch die Sperreinrichtung von der Westbank getrennt, aber 63'000 jüdische Siedler fänden sich ausserhalb des Zauns. (Diese Zahlen beziehen Ost-Jerusalem nicht ein; dort leben mittlerweile 175'000 Israelis und 195'000 Palästinenser.)

Die demografische Bombe

Dass Sharon vom Falken zum Räumer wurde, hat mit dem Streben nach anerkannten Grenzen und der langfristigen Wahrung des jüdischen Charakters des Staates Israel zu tun. Der jüdische Charakter scheint gefährdet, wenn die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten weiter so rasch wächst (aktuell 3,3 Prozent jährlich, gegenüber 1 Prozent bei den Israelis) und sich die Rückwanderung der Juden aus der Diaspora nicht verstärkt. Derzeit ziehen viele in Osteuropa lebende potentielle Einwanderer Deutschland vor!

Die Schweizer Organisation Pro Israel lehnt wie viele christliche Initiativen einen eigenständigen Palästinenserstaat jedoch weiterhin ab. Die politische und Bevölkerungs-Situation könne sich sehr rasch ändern, sagt Scherrer. Etwa sechs von sieben Millionen Einwohnern Israels seien Juden. Der grössere Teil des jüdischen Volks, zehn bis zwölf Millionen Menschen, lebe ausserhalb der Grenzen Israels – „sie müssen noch heimkommen“.

Auf immer verheissenes Land: jetzt beanspruchen?

Judäa und Samaria, das Hügelland zwischen Jerusalem und Galiläa, sind im Alten Testament dem jüdischen Volk, das mit Gott lebt, als ewiges Erbe verheissen. Für die Juden im Ausland hängt die Zukunft des Staates nicht davon ab, dass einst verheissene Gebiete heute mit allen Mitteln beansprucht und besiedelt werden – sonst würden sie selbst einwandern.

Mit anderen Israel-Freunden ist Scherrer jedoch der Meinung, dass Ereignisse, welche die Bibel für die Endzeit voraussagt, nächstens geschehen können. „Israel kommt immer mehr unter Druck. Der Aufmarsch gegen Jerusalem beginnt.“ Unter Verfolgung werde eine Masseneinwanderung einsetzen.

Was kommt nach dem Gaza-Rückzug?

Die israelische Politik dreht sich vorderhand um den Rückzug aus dem Gaza-Streifen. Der laufende Kampf dürfte, so die New York Times, ein Spaziergang sein im Vergleich zu den Auseinandersetzungen um die Zukunft von Westbank-Siedlungen wie Ofra und Beit El.

Die Konzentration der Bautätigkeit auf Orte wie Maale Adumim lässt Beobachter annehmen, dass Israel den Verlauf des als provisorisch geltenden Sicherheitszauns zur Grenze machen will.

Insgesamt wächst die jüdische Bevölkerung der Westbank noch um 5,6 Prozent jährlich – Sharon behauptet, Israel müsse sich dem in der Road Map festgehaltenen Verbot des Wohnungsbaus erst unterziehen, wenn die Palästinenser ihre Terror-Organisationen wirklich zerschlagen hätten. Mit der Zusammenführung ihrer Gh

Markant im Osten: Maale Adumim

Zwischen Maale und Ost-Jerusalem liegt das Gebiet, auf dem Israel 3'500 Wohnungen für 14'000 weitere Siedler erstellen will. Da diese Zone innerhalb der Gemeindegrenzen von Maale Adumim liegt, sprechen die Israelis nicht von Erweiterung. (Im Osten reichen diese von den Israelis gesetzten Grenzen weit in die judäische Wüste Richtung Jericho hinaus.)

Für die Palästinenser sieht es anders aus: Die jüdische Überbauung der Zone würde ihre Quartiere im Osten Jerusalems voneinander trennen.

Die US-Regierung hat für alle vernehmlich gegen den weiteren Wohnungsbau östlich von Jerusalem protestiert. Doch findet man es jenseits des Atlantiks bemerkenswert, dass der frühere Führer der Siedler, der die ganze Westbank mit jüdischen Siedlungen überziehen wollte, sich nun mit acht Prozent begnügt.

Anderseits scheint die Regierung entschlossen, den Siedlungsring um die Hauptstadt zu verdichten. Mit neuen Quartieren für die grösste Siedlung in der Westbank, die Stadt Maale Adumim, kommt sie diesem Ziel ein gutes Stück näher. Was die Palästinenser und die islamische Welt in ihrer Empörung über amerikanisch-israelischen Imperialismus bestätigt.

…und wenn sich Demokratie ausbreitet?

Das Spriessen von zarten Pflänzchen der Demokratie in der arabischen Welt weckt indes neue Hoffnungen – auch für den Konflikt um Israel. Entscheidend für die Zukunft der Palästinenser wird tatsächlich sein, dass Gewalt und Einschüchterung im öffentlichen Leben gestoppt werden können.

Ein Gradmesser für die Entwicklung ist die Behandlung der christlichen Minderheit. Durch die Intifada haben viele ihr Einkommen verloren. Die Auswanderung christlicher Familien in den Westen aufgrund des Drucks von Muslimen hat sich beschleunigt; die christliche Bevölkerung ist drastisch kleiner geworden.

Schleichende Islamisierung durch Auswanderung der Christen

Bei den Gemeindewahlen im Dezember 2004 hat die Hamas in vielen Wahlkreisen gewonnen, auch in Städten, die eigentlich christlich sind. Laut Beobachtern ist die Bewegung dafür bekannt, dass sie keine andere Kraft neben sich toleriert.

Dies weckt bei Christen Befürchtungen. Sie sind sehr verunsichert und fragen sich, ob ihnen im Land eine Zukunft bleibt. Während die traditionellen Kirchen durch die Emigration schrumpfen, haben neuere evangelische Gemeinden Zulauf, gerade in der Region Bethlehem.

Datum: 26.04.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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