Armenien: Schweizer Hilfswerk baut ein ganzes Dorf für die Ärmsten
Der Tankwagen spritzt noch einmal alle Strassen ab. Die Kinder haben ihre besten Kleider angezogen. Auf der Kreuzung üben die Schülerinnen ihren Reigentanz, während hinter ihnen traditionelle Instrumente gestimmt werden. Jemand hat eigens für diesen Anlass ein Lied komponiert.
Anerkennung vom Staat
Denn für diesen Tag hat sich hoher Besuch angesagt: Ministerpräsident Andranik Markarian persönlich wird erscheinen, begleitet vom Bürgermeister der Stadt, Robert Nasarian. Vier Kamerateams suchen derweil für ihre Geräte die besten Aufnahmewinkel, und auf dem Trottoir steht mit einem Mal ein Klavier. Neugierig kommen die Menschen aus ihren Häusern. Sind es diese Vorbereitungen, die sie anziehen, oder sind es die zwei Dutzend Touristen aus der Schweiz?1) Die Sprachbarriere macht zu schaffen. Wie gerne würde man mit den Leuten ein paar Worte wechseln. In der Zwischenzeit erklärt ein Mitarbeiter von Diaconia der Gruppe Zustand und Ziel des Projekts auf dieser Hochebene am Stadtrand.
Wer darf kommen?
Vor zwei Jahren sei Spatenstich gewesen, und genau vor einem Jahr, im August 2003, konnten die ersten 20 Familien einziehen. Familien aus den ärmlichsten Verhältnissen. Davon gebe es mehr als 20. Auch mehr als 200. So viele können maximal im Dorf Platz finden. Aber man muss sich irgendwie beschränken und die härtesten Fälle auslesen. Das ist die Aufgabe eines gemeinsamen Komitees von Diaconia mit Vertretern der Stadtbehörden. Es befindet nach bestimmten Kriterien über die Hauszuteilungen.
Abschied vom Karton
Zur Zeit würden vor allem Häuser gebaut. Zufahrtsstrassen, eine Schulen und ein Kindergarten, Handwerksbetriebe, ein Park, das alles sei noch geplant. Zunächst bräuchten die Menschen erst ’mal anständige Wohnungen. Fünf Minuten vorher hat Nara, unsere Übersetzerin, zufällig eine Frau wiedererkannt, die sie vor einigen Jahren in der Stadt kennengelernt habe. Unter anderen Verhältnissen allerdings: mit ihrer alten Mutter und ihren vier Kindern in einer Ruine von Haus, die Wände mit Kartons „abgedichtet“, das Jüngste auf einem alten Sessel, weil es kein Bett gab. Seit dem vergangenen Jahr wohnt diese Familie im Dorf der Hoffnung. Nara stehen die Tränen in den Augen.
Seit kurzem seien die Häuser, wie Malgo weiter ausführt, ans städtische Gasnetz angeschlossen. Im vergangenen Winter noch habe jedes nur über einen einzigen Ofen verfügt. Bei 20-30 Minusgraden keine Vorstellung, mit der man warm werden könnte. Das soll sich jetzt bessern.
Hilfe von aussen ist nötig
Ob das denn nicht Aufgabe des Staates sei, diesen Menschen zu helfen, fragt einer aus unserer Gruppe. So etwas sollte man doch nicht vom Westen aus auf die Beine stellen müssen! Doch, natürlich wäre das Aufgabe des Staates, entgegnet er. Aber der kann einfach nicht. Das Erdbeben vom Dezember 1988, der kaum verdaute Krieg um Berg-Karabach und das Wirtschaftsembargo der Türken setzten ihm zu sehr zu. Bis zu 80 Prozent Arbeitslosigkeit, da seien die Grenzen rasch erreicht.
Derweil proben die jungen Musiker im Hintergrund weiter. Die Fernsehteams haben ihre Positionen gefunden, und die Lautsprecheranlage ist halbwegs abgestimmt und eingestellt. Ein schwarzer Jeep und eine Art Ost-Mercedes fahren vor. Die Feier beginnt. Die Kinder bringen ihre Darbietung, die Offiziellen ihre Reden: ein Delegierter von Diaconia International, Baruyr Jambazian als Leiter von Diaconia in Armenien, Bürgermeister Nasarian sowie Ministerpräsident Markarian: „Wir schätzen uns glücklich, dass die europäischen Freunde uns geholfen haben“, freut sich der Präsident. Es folgt der erste Höhepunkt: Jede Familie, die ein neues Haus erhält, wird namentlich aufgerufen und nimmt aus den Händen des Bürgermeisters ihre Wohn-Urkunde entgegen. Verschenkt werden die Häuser nicht, aber als Heim anvertraut. Jeder hat davor einen Wohnvertrag unterzeichnet.
Der Weg ist frei
Ein Kind überreicht den beiden einheimischen Politikern ein grosses Brot und Salz, das den Häusern Glück bringen soll, und symbolisch durchtrennen diese nun das rote Band, das man über die neue Strasse gespannt hatte. Der Weg ist frei: zur Begehung und zum Einzug.
Die Leute können ihr Glück nicht fassen. Noch in der ersten Aufregung gibt eine Frau einer Radio-Reporterin ein Interview. Ihr Baby hatte sie auf den Namen Baruyr getauft, aus Dankbarkeit für diesen Mitarbeiter von Diaconia, erklärt mir die Reporterin anschliessend auf englisch. Ein Haus weiter scheint ein Teil der Verwandtschaft das neue Heim zu inspizieren. Die Mutter trägt ihr kleines Kind auf dem Arm und bringt kaum ein Wort hervor. Zum Andenken an diesen grossen Tag mache ich ein Polaroid-Bild und übergebe es ihnen gleich. – Zwei Stunden nach Beginn der Feier zerläuft sich allmählich alles. Jeder ist mit sich und seiner Freude beschäftigt.
Wann denn die nächsten zehn Häuser parat seien, will noch jemand wissen; dort hinten stünden ja schon die Aussenmauern. Benjamin Malgos Antwort ist ebenso lapidar wie einsichtig: „Wenn genug Geld dafür da ist ...“
Diaconia Internationale Hilfe
Anfang der 80er Jahre begann Diaconia mit der Lieferung von Literatur und Hilfsgütern hinter den Eisernen Vorhang. In kleinem Umfang geht diese Arbeit in Rumänien und Albanien weiter, ähnlich in Nepal. Schwerpunktland von Diaconia ist mittlerweile aber Armenien. Dort wird vor allem das „Dorf der Hoffnung“ gebaut, und über ein weitverzweigtes Patenprogramm erhalten derzeit 4500 Kinder und ihre Familien medizinische und andere Betreuung. Weitere 5000 stehen auf den Wartelisten.
Diaconia führte vom 22. August bis 1. September 2004 eine Erlebnis- und Begegnungsreise nach Armenien durch. Teil davon war ein Besuch der Patenkinder und die Übergabefeier jener 10 neuen Häuser.
Der Hauptsitz von Diaconia Internationale Hilfe befindet sich im aargauischen Beinwil am See.
Weitere Auskünfte unter diaconia@diaconia.org und Telefon 062 771 05 50.
Internet: www.diaconia.org
Lesen Sie auch:
Das „Dorf der Hoffnung“ – ein Wunder auf Raten
„Das ist ein Wunder!“ Interview mit Frau Danielian aus dem Dorf der Hoffnung in Jerewan, Armenien
Quelle: Livenet.ch