Auch in den USA
«Die Evangelikalen» gibt es nicht
Weil «die Evangelikalen» in den USA Donald Trump 2016 zum Wahlsieg verholfen haben, sind sie regelmässig Prügelknaben in den hiesigen Medien. Doch wer sind denn «die Evangelikalen» in den USA?Etliche polemische Beiträge über die Evangelikalen in den USA lieferten vor allem Nachrichtensendungen des Fernsehens SRF. Die Sternstunde Religion vom Sonntag (11.10.20) hat dazu jetzt einen Kontrapunkt gesetzt, indem sie den Buchautor und Soziologen Philipp Gorski zu Wort kommen liess. Der Professor an der Berkeley Universität in Kalifornien zeigte zum einen, dass es durchaus keine geschlossene evangelikale Front für Trump gibt. Die Exponenten, die sich mit Trump treffen, ihn in Gottesdienste einladen und ihn wie einen Messias feiern, kämen vor allem aus der Szene der Wohlstandstheologie, so Gorski. Zudem bröckle die Unterstützung der Evangelikalen. Er hat dazu das Buch «Am Scheideweg / Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump» geschrieben, das im Herder Verlag erschienen ist.
Verschiedene Richtungen
Es gebe unter den Evangelikalen, so Gorski, die Sozialkonservativen und die christlichen Nationalisten, die Trump unterstützen. Den Sozialkonservativen gehe es um die Abtreibung. Die christlichen Nationalisten sähen Trump als Bewahrer der christlichen Tradition der USA, obwohl er selbst kein christliches Leben führe. Einige hielten ihn aber tatsächlich auch für einen guten Christen, so fragwürdig dies auch sei. Denn Trump habe weder ein Verständnis für Christentum noch Kenntnisse der Bibel. Er mache sich sogar immer wieder mal über die Evangelikalen lustig.Dennoch schätzten Evangelikale sein Eintreten für Israel und seine Position gegen Abtreibung. Einige hegten sogar die Hoffnung, er könne Amerika wieder zu einer christlichen Nation machen. «Er hat mehr Gutes für uns getan als es irgendein anderer Präsident je für uns getan hat», erklärt der Baptistenpfarrer Matthew Floyd aus Florida in einem Video. Das überwiege sein Flüche und hetzerischen Aussagen. Trump selbst warnte bei einem Auftritt die Evangelikalen vor den Demokraten, denn diese versuchten, die Kirchen zum Schweigen zu bringen.
Junge Evangelikale wenden sich ab
Dennoch wendeten sich immer mehr, auch weisse, Evangelikale von Trump ab aufgrund von dessen Verhalten und rassistischen Aussagen, beobachtet Gorski. Besonders junge Evangelikale, die sich auch Gedanken über den Rassismus in der Geschichte des Landes machen, würden ihn nicht mehr wählen. Gorski schätzt, dass höchstens noch 60-70 Prozent der weissen Evangelikalen Trump im November wählen, aber nicht mehr 80 Prozent wie 2016. Schon damals hätten die farbigen Evangelikalen mehrheitlich für Clinton gestimmt.
Von demokratischen Gemeinden zu Megachurches
Gorski verwies auch auf die grossen strukturellen Veränderungen unter den evangelischen Kirchen. Während diese im 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts als demokratische Gemeinden aufgestellt waren – gleichsam als Schulen der Demokratie –, gebe es heute zahlreiche Megachurches mit einem Starpastor, die wie Unternehmen geführt würden. Dies oft von Leuten, die keine theologische Ausbildung hätten, dafür am Fernsehen auftreten und ein luxuriöses Leben mit Villa und Privatjet führten. Ihre Theologie sei das Wohlstandsevangelium. Dazu passe auch ihr autoritäres Politikverständnis. Allerdings betreffe dies vor allem Wohlstandspredigerinnen wie Paula White, die sich gar zur Aussage «Ein Nein zu Trump ist auch ein Nein zu Gott» verstieg. Oder Jerry Fallwell junior, der selbst kein ausgebildeter Pastor sei, sondern sich als Geschäftsmann verstehe wie Trump.
Eine Folge der Endzeittheologie
Die Entwicklung habe, so Gorski, viel mit der Endzeittheologie zu tun, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gross geworden sei. Sie beschreibe die Welt als Kampf zwischen Gut und Böse. Wenn sich Trump für die Evangelikalen einsetze, gehöre er in der Optik dieses Spektrums zu den Guten. Zusätzlich werde er als Analogie zum persischen König Kyrus gesehen, der das Volk aus der babylonischen Gefangenschaft herausgeführt habe. Für Trump selbst sei das Bündnis mit den evangelikalen Exponenten jedoch eine reine Zweckbeziehung.
Gorski verwies darauf, dass es durchaus eine Bewegung unter evangelischen Christen in den USA gibt, die sich davon distanziert. Er nannte dazu die National Association of Evangelicals (NAE), vergleichbar mit der Evangelischen Allianz in der Schweiz und in Europa. Unlängst hat sich auch der (ehemalige) Chefredaktor des in diesem Umfeld angesiedelten Magazins «Christianity Today» deutlich von Trump distanziert.
Gorski wies darauf hin, dass die Evangelikalen sich erst seit 50 Jahren als Gegner der Abtreibung verstehen. Sie hätten das vor allem von konservativen Katholiken übernommen, die ein Zweckbündnis mit den Evangelikalen eingegangen seien und sich zusammen mit ihnen politisch bei den Republikanern positioniert hätten. Zuvor hätten sich die konservativen Katholiken aufgrund der Soziallehre vor allem bei den Demokraten angesiedelt.
Einseitige Sicht
Notabene besitzen die Evangelikalen in den USA heute einen ähnlichen Bevölkerungsanteil in den USA wie die Nichtreligiösen, nämlich rund 25 Prozent. Dies habe, so Gorski, dazu geführt, dass sich die Christen in den USA heute als die am meisten verfolgte Minderheit verstünden. Von daher ist es auch zu verstehen, dass eine Mehrheit unter ihnen von Trump die Sicherstellung von Werten und Positionen erwartet, die sie vom Katholiken Jo Biden nicht erwarten können. Dass sie dabei die Missachtung anderer und mindestens ebenso wichtiger Werte wie die Achtung der Würde aller Menschen, die Bewahrung der Schöpfung oder soziale Gerechtigkeit ausblenden, scheint vielen bislang noch kein Problem zu sein.
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet