Wiederherstellende Gerechtigkeit
«Ich habe dem Mörder meiner Tochter vergeben»
Kate Grosmaire besucht den ehemaligen Freund ihrer Tochter regelmässig. Die beiden haben ein – man kann sagen – herzliches Verhältnis. Und das, obwohl Conor McBride ihre Tochter umgebracht hat. Die Christin hat ihm vergeben. Und sie unterstützt eine alternative Form des Strafvollzugs, das Konzept der «wiederherstellenden Gerechtigkeit».
«Sie müssen mich verhaften», mit diesen Worten betrat Conor McBride (damals 19) im März 2010 die Polizeiwache in Tallahassee. «Das ist kein Witz. Ich habe meine Verlobte erschossen.»Ein unverständlicher Mord
Ann Grosmaire und Conor McBride waren beide 19 Jahre alt und gingen gemeinsam aufs College. 2010 waren sie bereits drei Jahre befreundet und hatten sich gerade verlobt. Irgendwann kam es zu einem banalen Streit zwischen ihnen. Sie stritten, schrien, schickten sich SMS und riefen sich an. Doch anders als sonst kamen sie zu keiner Lösung. Niemand schlug vor, erst einmal darüber zu schlafen. Niemand wollte die Argumente des anderen gelten lassen. Und irgendwann, nach zwei Tagen im Dauerstreit, griff Conor zu seiner Waffe. Seine Verlobte ging in die Knie und rief noch: «Nein, tu es nicht!» Doch es war zu spät. Der junge Mann schoss ihr in den Kopf. Dann ging er zur Polizei, um sich zu stellen. Er war sicher, sie getötet zu haben, doch noch lebte sie. Es war klar, dass sie ohne Wunder nicht überleben könnte, aber die Eltern hielten im Krankenhaus Nachtwache. In diesen angespannten Stunden hoffte Anns Vater auf ein letztes Lebenszeichen seiner sterbenden Tochter. Und plötzlich meinte er, etwas von ihr zu hören: «Vergebt ihm!» Er wusste nicht, ob sie tatsächlich gesprochen hatte. Aber Andy Grosmaire ist sich bis heute sicher, dass es ihre Botschaft an ihn war: «Vergebt ihm!», auch wenn seine erste Reaktion war: «Unmöglich!»
Eine bewegende Familienbeziehung
Conor hatte als Freund und Verlobter schon so eng zur Familie Grosmaire gehört, dass sie im Krankenhaus immer wieder erwarteten, dass er zur Tür hereinkommen und sich um seine Braut kümmern würde, die er doch erschossen hatte. Dafür hatte Conors Vater den starken Eindruck, kommen zu müssen. Als die beiden Väter sich am Sterbebett von Ann umarmten, meinte Andy Grosmaire nur: «Danke, dass du gekommen bist – auch wenn ich dich vielleicht am Ende der Woche hassen muss.» Nach vier Tagen fällte Anns Familie die Entscheidung, die Maschinen abschalten zu lassen, an denen ihre Tochter hing. Doch vorher ging ihr Vater zu ihr und redete mit Gott. Er dachte an die Aufforderung zum Vergeben: «Ich habe noch nie Nein zu dir gesagt, Gott, und ich werde am Sterbebett meiner Tochter nicht damit anfangen … Ich weiss nicht, wie es gehen soll, aber ich will Conor vergeben.» Währenddessen im Gefängnis hatte man Conor eine Liste gegeben. Fünf Personen sollte er aufschreiben, die ihn besuchen durften. Er wusste nicht warum, aber er schrieb Anns Mutter dazu. Zitternd besuchte sie ihn noch am gleichen Tag und trotz aller Wut und Tränen, trotz der Besucherraumatmosphäre und nur 15 Minuten Zeit, fanden die beiden zusammen.Eine seltsame Gerichtsverhandlung
Auch wenn Conor Ann nicht geplant ermordet hatte, schien es doch klar, dass es bei seiner Verhandlung um die Todesstrafe oder eine lebenslängliche Haftstrafe gehen würde. Bei einem ersten Gespräch der Eltern mit dem Staatsanwalt taten sich allerdings ganz andere Möglichkeiten auf. Dieser erklärte ihnen, welche Vollmacht er als Staatsanwalt über das beantragte Strafmass hätte. Er dachte dabei, dass Grosmaires sicher Vergeltung wollten, doch das Ehepaar drehte den Spiess um: «Heisst das, dass er gar nicht lebenslang ins Gefängnis muss?» So hörten sie zum ersten Mal vom Prinzip der wiederherstellenden Gerechtigkeit in Florida. Alle Beteiligten müssen sich dabei zusammensetzen und mithilfe eines Vermittlers verhandeln. Jeder Beteiligte kommt dabei zu Wort und darf ohne unterbrochen zu werden über das Verbrechen und seine Auswirkungen sprechen. Und dann sollen alle gemeinsam zu einer Übereinkunft kommen, wie der angerichtete Schaden wiedergutgemacht werden kann. In der Regel wird dieses Prinzip eher bei kleinen Straftaten angewandt, doch Kate und Andy Grosmaire erkannten sofort die Tür, die sich hier für sie und Conor McBride auftat. So kam es trotz des gewaltsamen Todes zu keiner wirklichen Gerichtsverhandlung. Der gesamte Prozess fand als Schlichtung mit einem Vermittler statt. Und am Ende stand als einvernehmliches Urteil fest: Conor wurde zu 20 Jahren Gefängnis mit 10 Jahren Bewährung verurteilt. Er musste sich zu Gewaltpräventionskursen anmelden und mit Teenagern über Gewalt in Beziehungen sprechen.
Eine Chance zur Vergebung
Nachdem der Fall ausführlich in der Presse besprochen wurde, erhielt Kate immer mehr Anfragen von Menschen, die «anderen vergeben wollten aufgrund unseres Beispiels». Sie schrieb ein Buch darüber: «Forgiving My Daughter's Killer» (Dem Mörder meiner Tochter vergeben) und sie setzt sich überall für die Idee der wiederherstellenden Gerechtigkeit ein. Sie stellt klar, dass dies eine einmalige Chance für Täter und Opfer ist, sich wirklich zu begegnen und auszusprechen. Die Opfer können hier ihre Trauer in Worte fassen und der Täter bekommt die Chance, Umstände zu erklären bzw. einfach um Vergebung zu bitten. All dies findet bei einer normalen Gerichtsverhandlung nicht statt. Ehepaar Grosmaire engagierte sich schon länger im Heilungsdienst ihrer Kirchgemeinde. Sie wussten um die Kraft der Vergebung, doch jetzt wurde es schmerzhaft persönlich. Kate und Andy Grosmaire unterstreichen, dass es viele Missverständnisse rund um die Vergebung gibt: Sie geschieht nicht automatisch. Sie beinhaltet keine Wiederherstellung. Sie bedeutet auch nicht Vergessen. Sie ist im Gegenteil ein anstrengender, lang dauernder Prozess – doch bereits während dieses Weges macht man als Vergebender die Erfahrung, dass man wieder frei wird. Denn Vergebung hilft in erster Linie demjenigen, der vergibt.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christianity Today