"Fussball ist die wichtigste Religion Lateinamerikas"

An der Wand hängt ein Porträt des Reformators Martin Luther, gegenüber sind Fussballplakate und Turnierpokale zu sehen. Für Melvin Jiménez steht fest, dass Fussball in Lateinamerika die grösste Anziehungskraft besitzt. "Fussball ist die wichtigste Religion Lateinamerikas", sagt der Pfarrer und Präsident der lutherischen Kirche Costa Ricas in der Hauptstadt San José.

Wie seine vier Millionen Landsleute fiebert Jiménez dem 9. Juni entgegen, wenn sein Land zur Eröffnung der Fussball-Weltmeisterschaft gegen Deutschland antritt. Die WM-Euphorie nützt der vom Fussball begeisterte Kirchenpräsident, um sein eigenes Anliegen voran zu bringen. Fussball, sagt der Theologe und Soziologe, sei in Lateinamerika mehr als nur Sport. Dort komme ihm grosses politisches Gewicht zu. Es gebe Dörfer ohne Kirchen, ohne Bürgermeister oder ohne Schule. "Es gibt aber kein Dorf, in dem nicht Fussball gespielt wird."

Wie im heutigen Lateinamerika Fussball und Zivilgesellschaft verschmelzen, illustriert Jiménez an seinem eigenen Club aus Moravia, einem Vorort San Josés. Das Vereinszentrum ist Tanz- und Konferenzsaal sowie Treffpunkt für politische Diskussionen. Überall in Costa Rica gehört eine Frauenmannschaft ebenso zum Verein wie eine Männermannschaft. "Der Fussball bewegt viel in den Gemeinden", sagt Jiménez.

Unterschiedliche Mentalität

Für die Mehrzahl der Menschen sei Fussball mehr als ein Geschäft, an den finanziellen Möglichkeiten des Sports sei nur die wirtschaftliche Elite interessiert. Dieser Konflikt spiegelt sich laut Jiménez auch in den beiden wichtigsten Mannschaften Costa Ricas wieder, Alajuela und Saprissa. Beide stellen einen grossen Teil der Nationalelf.

Die Mentalität der beiden Spitzenvereine könnte unterschiedlicher nicht sein. Saprissa gehört dem mexikanischen Magnaten Jorge Vergara und wird von ihm vermarktet wie jedes andere Produkt seines Konzerns Omnilife auch. Alajuela hingegen "ist ein Club, der seine Spieler dafür sensibilisiert, dass sie eine soziale Verantwortung haben", erklärt Jiménez. So ermuntert die Clubleitung ihre Starspieler zu karitativem Engagement. Sie sollen Vorbild sein, gegen Gewalt eintreten und für die Aids-Prävention werben.

Beim Weltfussballverband FIFA sieht Jiménez erst zögerliche Ansätze zu mehr sozialer Verantwortung. Als Beispiel nennt er die Kampagne gegen die Kinderarbeit, die die FIFA gemeinsam mit dem UN-Kinderhilfswerk Unicef organisiert. Dies sei aber nicht ausreichend, sagt der Pfarrer.

Die Freude am Fussball lässt sich Jiménez dadurch nicht verderben. Für die WM-Eröffnung am 9. Juni erwartet er "ein schönes Spiel, denn im Gegensatz zum Gastgeber können wir unbeschwert aufspielen". Ein Unentschieden wäre für ihn "ein riesiger Erfolg.

Dossier: www.jesus.ch/wm06/

Datum: 30.05.2006
Quelle: Epd

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