Hirnchirurgie ohne Skalpell
«Nach einem Jahr waren 65 Prozent immer noch opiatfrei»
Eine Sucht-Therapie-Form aus Israel beginnt Wellen zu
schlagen: Mittels «Accelerated Neuroregulation» (ANR) sinkt die Rückfall-Quote
gegenüber früherer Verfahren erheblich. Der Arzt Daniel Beutler leistet dieser
Errungenschaft aus dem Land der Bibel nun in Europa Vorschub, erlebt dabei aber
Widerstand. Daniel Beutler, seit dem laufenden Jahr medizinischer Direktor von
«ANR Europa», erklärt die Methode im Interview mit Livenet.Daniel Beutler,
für jene, die ANR nicht kennen – wie funktioniert diese Therapieform?
Daniel Beutler: Wichtig für das
Verständnis des ANR Verfahrens ist, dass jeder Mensch über ein natürliches
Opiatsystem verfügt. Dieses besteht aus sogenannten Rezeptoren und Endorphinen,
welche an den Nervenzellen Signale erzeugen, die eine zentrale Rolle zum
Beispiel in der Gefühlsregulation oder dem Schmerzempfinden spielen. Wenn
Opiate – zum Beispiel Heroin, Methadon oder morphinhaltige Schmerzmittel in
höheren Dosen oder über längere Zeit von aussen zugeführt werden, verändert
sich dieses System. Wenn der Opiatkonsum ausbleibt, manifestiert sich die
Abhängigkeit, das heisst, es wird ein starkes Verlangen nach Opiaten erzeugt.
Mittels ANR wird durch eine medikamentöse Blockade der veränderten
Rezeptorstruktur das natürliche Gleichgewicht wiederhergestellt, wodurch das
Craving ausbleibt und so die Abhängigkeit behoben wird.
Wie wurde sie
entwickelt?
Kaum war der
Rezeptorblocker Naltrexon entdeckt, wurde mit diesem Wirkstoff experimentiert,
um Opiatabhängige zu behandeln. Auch in der Schweiz wurden in mehreren
Spitälern solche Versuche unter dem Begriff «Rapid Detox» etc. gemacht.
Aufgrund unbefriedigender Resultate, Komplikationen und hoher Kosten wurden
diese aber wieder aufgegeben. ANR ist das Resultat einer Weiterentwicklung durch
den israelischen Arzt Andre Waismann. Es ist nicht einfach ein
«Entzugsverfahren», sondern quasi Hirnchirurgie ohne Skalpell, ein
medikamentöser Eingriff am zentralen Nervensystem mit dem Ziel, das Verlangen
nach Opiaten auszuschalten.
Sie wenden ANR
in der Schweiz an, welche Resultate konnten dabei erzielt werden?
Im Pilotprojekt
ANR Schweiz wurden zwischen 2012 und 2018 rund 150 Patienten behandelt. Die
Resultate sind hervorragend, insbesondere die Langzeitresultate. Nach einem
Jahr waren über 65 Prozent der Patienten immer noch opiatfrei. Das beweist ohne
jeden Zweifel, dass durch das Ausschalten des Verlangens eine nachhaltige
Opiatabstinenz ermöglicht wird. Unter den behandelten Opiatabhängigen befinden
sich solche, die zuvor alle erdenklichen Entzugsverfahren versucht hatten.
Einige nahmen über zwanzig Jahre Ersatzdrogen oder waren abhängig von
Schmerzmedikamenten, viele trugen den Stempel «hoffnungsloser Fall». Dank ANR
ist es gelungen, diesen Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zurückzugeben,
einige schafften sogar den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt oder begannen
ein Studium.
Wie hat sich das
Interesse daran in der Schweiz entwickelt?
Bei den
Patienten und den behandelnden Ärzten sehr gut, so dass wir zunehmend
Zuweisungen von Hausärzten oder Psychiatern haben. Hingegen werden wir von der
etablierten Suchtmedizin, insbesondere von Suchthilfe- und Abgabestellen,
mehrheitlich ignoriert und vereinzelt sogar aktiv bekämpft. So haben wir
erfahren, dass mehrere Stiftungen von Suchtfachleuten angehalten wurden, unsere
Patienten nicht mehr zu unterstützen und zwei erfolgreich behandelten Männern
wurde von ihrer ehemaligen Heroin-Abgabestelle nahegelegt, sich dort nicht mehr
blicken zu lassen. Besonders tragisch ist der Fall eines Methadonpatienten, dem
von psychiatrischer Seite vehement von ANR abgeraten wurde und der dann wenig später
an einer Überdosis starb.
Sind Berufskollegen
aus dem Ausland auf Ihre Arbeit in der Schweiz aufmerksam geworden?
Ja, vor allem
durch erfolgreich behandelte Patienten, aus Deutschland und Österreich. Letzten
Sommer durfte ich das ANR-Projekt am 20. Interdisziplinären Suchtkongress in München
vorstellen. Das Echo war einerseits positiv, andererseits liegt der Fokus auch
in den Nachbarländern auf Schadensminderung. Nicht unterschätzt werden darf der
Einfluss der Pharmaindustrie, welche mit den Ersatzdrogen sehr viel Geld
verdient und somit kein Interesse daran hat, abstinenzorientierte Methoden wie
ANR zu fördern. Nicht wenige namhafte Suchtmediziner wurden von der
Pharmaindustrie nach München eingeladen – in der Schweiz wäre das verboten,
ich musste meinen Aufenthalt selber berappen.
Wann denken Sie,
wird sich ANR durchsetzen?
Dadurch, dass
die Pharmaindustrie keine Studie unterstützt und eine Finanzierung durch den
Nationalfonds am Widerstand etablierter Kreise scheiterte, fehlt ANR nach
streng wissenschaftlichen Kriterien die Evidenz. Eine Studie wird daher von der
«scientific community» klar gefordert. Das entspricht zwar den
wissenschaftlichen Gepflogenheiten, ignoriert aber die hervorragenden Resultate
der bisherigen ANR Behandlungen und unterschlägt die miserablen Erfolgszahlen herkömmlicher
Verfahren. ANR wird sich durchsetzen, wenn unsere zufriedenen Patienten in
ihrem Umfeld oder via Social Media eine vermehrte Nachfrage erzeugen. Weiter
müssen wir mit allen Mitteln versuchen, die Finanzierung via Stiftungen oder
Fonds und im Idealfall natürlich via Krankenkassen zu erreichen. ANR ist der
Schlüssel zu einem Paradigmawechsel in der Suchtmedizin, um den Schwerpunkt
wieder neu auf die Behandlung zu setzen. Ersatzdrogen können sehr wohl eine
Stabilisierung ermöglichen, sind aber keine Dauerlösung.
Zum Thema:
Frei von Drogen: Neue Methode aus Israel gibt Grund zur Hoffnung
Bei den Innovativsten: Drei Universitäten aus Israel in Top-100 der Unis
«Intel» im Land der Bibel: Israel enthüllt das intelligenteste Gebäude der Welt
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet
Kommentare