Zwischen ABC und Genderstern
Antisemitismus in der deutschen Sprache
Antisemitismus beginnt nicht erst da, wo Steine gegen Synagogen fliegen. Aber was hat er mit Sprache zu tun? Viel, behauptet der promovierte Religionswissenschaftler Michael Blume. Sprache ist keinesfalls neutral, sie prägt unser Denken und Empfinden. Sie vermittelt Wert und brandmarkt Unwert – ob bewusst oder unbewusst.
In George Orwells Klassiker «1984» arbeitet Winston Smith in einer totalitären Welt im Ministerium für Wahrheit, wo er die Geschichte in Büchern und Artikeln an die jeweils gewünschte Realität anpasst. Parallel dazu sorgt das «Neusprech» der Regierung dazu, dass das Volk abweichende Meinungen nicht einmal mehr äussern kann, weil ihm die Vokabeln dazu fehlen.
Sprache spielt in Orwells Dystopie eine entscheidende Rolle, um Meinung zu machen und Menschen zu beherrschen. Diesen Zusammenhang beleuchtet auch Dr. Michael Blume (45) in seinem Artikel im aktuellen Magazin des Goethe-Instituts: «Opa, was haben denn diese Semiten getan? Über den Antisemitismus in der deutschen Sprache – und wie wir ihn auch dort besiegen können». Er erklärt darin: «Liebe und Hass wohnen in der Sprache – denn mit ihren Begriffen ordnen wir die Welt.»
Das ABC des Antisemitismus
Laut Blume schafften es die Nationalsozialisten gezielt, Begriffe zu «vergiften». Sie deuteten «Semiten» als «Rasse» um und verbanden «Jude» mit der Abwertung «böse Verschwörer». Diese Umdeutung ging so weit, dass deutsch-jüdische Namen sogar aus der damaligen Buchstabiertafel entfernt wurden. Aus D wie David wurde D wie Dora, aus S wie Samuel wurde S wie Siegfried. «Und obwohl die Nationalsozialisten nach all ihren Morden und Verbrechen endlich militärisch besiegt wurden, lebt ihre Sprache grösstenteils unbewusst weiter. Das tückischste Gift ist das, das nicht schmeckt, nicht riecht, nicht gespürt und doch weitergegeben wird.»
Der Neid auf die Schrift
Was ist die Ursache für das Phänomen des Antisemitismus? Er war ja keine Erfindung der Nazis – sie haben ihn nur perfide perfektioniert. Tatsächlich ist die «pauschale Judenfeindlichkeit» rund 2'500 Jahre alt. Laut Blume hat sie ihre Wurzeln in der Bildung, der Sprache, der Schrift. Nicht umsonst ist unser Alphabet nach den ersten beiden hebräischen Buchstaben genannt: Aleph und Beth. Er stellt fest: «Klar, dass viele andere schon in der Antike voller Unverständnis, bald auch mit Neid, Hass und Angst auf das entstehende Judentum schauten, dessen Angehörigen man die Tempel zerstören und die Heimat nehmen konnte – solange sie nur ihre Schriften lehren durften, blieben sie beieinander.» Und ihre Bildung zeigt bis heute Früchte: 20 Prozent aller Nobelpreise entfielen auf jüdische Preisträgerinnen und Preisträger.
W-r-t und die rechte Gehirnhälfte
Michael Blume geht noch einen Schritt weiter in die sprachlichen Grundbausteine hinein. Hebräisch ist eine Konsonantenschrift, die von rechts nach links gelesen wird. W-r-t könnte dort Wort, Wert, Warte oder Wahrheit bedeuten. Zum Verständnis ist hier Zeit, Kreativität und Anleitung nötig. Unsere rechte Gehirnhälfte wird gefordert. «Sprache, Schrift, ja das Leben selbst entfaltet sich nie im Monolog nur einer Seite, sondern im Dialog der Generationen miteinander.»
Im Griechischen und auch unseren heutigen Alphabetschriften findet das nicht mehr statt: «Wort heisst Wort, und Wahrheit heisst Wahrheit!» Doch schon der antike Sokrates warnte davor, dass man so zwar viel Wissen, aber nicht unbedingt Weisheit erwerbe.
Sprache wirkt!
Bei spektrum.de reagiert Michael Blume auf Kritik, die er für seinem Artikel erhielt. Bezeichnenderweise drehte sich diese hauptsächlich um die Verwendung des Gendersternchens, das die Goethe-Redaktion in jedem Beitrag verwendet. Er unterstreicht: «Vor allem eher autoritär gestrickte Männer lassen mich in wütendem Ton wissen, dass Arten des Schreibens völlig unerheblich seien – und toben zugleich, wie ich es wagen könne, 'zu gendern'.»
Für ihn ist das mehr als eine Geschmacksfrage. Es zeigt, dass Sprache kein neutrales Medium zum Transport von Inhalten ist. Vielmehr zeigt sie, dass «Leser*innen» von der Art ihrer Ansprache ganz persönlich angesprochen oder abgeschreckt werden.
Antisemitismus und ich
In seinem Buch «Warum der Antisemitismus uns alle bedroht» (Vorstellung bei Livenet) gibt Blume wesentlich detailliertere Hintergrundinformationen. Doch einiges sollte auch schon beim Lesen seiner kurzgefassten Argumente deutlich werden:
- «Was wir sagen und wie wir
uns ausdrücken prägt uns und unsere Umgebung.»
- «Unsere Sprache enthält
einige Begriffe und Gedanken, die antisemitische Wurzeln haben. Wir müssen sie
aber nicht verwenden.»
- «Wie sprechen, schreiben, erzählen wir in der Öffentlichkeit? Verbreiten wir Wissen – oder versprühen wir, mehr oder weniger bewusst, altes Gift?»
Übrigens: Noch 2021 wird es eine neue Buchstabiertafel geben – frei von nationalsozialistischen Eingriffen. Und «die Verständigen werden wissen, wie kostbar und wertvoll Wörter und Zeichen sind – sowie die Geschichten, die wir zwischen den Generationen austauschen. Zukunft ereignet sich, wenn wir miteinander sprechen».
Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler. Der evangelische Christ ist Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. In seinen Büchern und Vorträgen wirbt er für einen respektvollen interreligiösen Dialog und entlarvt gleichzeitig Verschwörungsdenken jeglicher Couleur – wie zum Beispiel Antisemitismus.
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet
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